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"Wenn der Abend kommt" - Die späte Erinnerung eines alten Mannes
Text: Matthäusevangelium 8, 23–27 - Einheitsübersetzung neu
Er stieg in das Boot und seine Jünger folgten ihm nach. Und siehe, es erhob sich auf dem See ein gewaltiger Sturm, sodass das Boot von den Wellen überflutet wurde. Jesus aber schlief. Da traten die Jünger zu ihm und weckten ihn; sie riefen: Herr, rette uns, wir gehen zugrunde! Er sagte zu ihnen: Warum habt ihr solche Angst, ihr Kleingläubigen? Dann stand er auf, drohte den Winden und dem See und es trat völlige Stille ein. Die Menschen aber staunten und sagten: Was für einer ist dieser, dass ihm sogar die Winde und der See gehorchen?
Erinnerung
Ich sitze oft hier, wenn der Abend kommt. Auf diesem alten Stein nahe am Ufer, an derselben Stelle, an der ich früher die Netze geflickt habe. Die Hände sind nicht mehr stark, die Beine zittern manchmal, und oft muss ich zweimal überlegen, ob ich mich noch einmal bis zum Wasser hinunter wagen soll. Aber der See - er ruft mich immer wieder zurück. Nicht wegen der Fische. Nicht wegen der alten Zeiten. Sondern wegen dieser einen Nacht, die mich mein ganzes Leben begleitet hat.
Manchmal fragen mich junge Leute aus unserem Dorf: 'Warum erzählst du uns nicht mehr von Jesus? Warum redest du so wenig über daa, was du mit ihm erlebt hast?' Ich lächle dann nur und zeige auf das Wasser. 'Weil vieles nur der versteht, der gelernt hat, in Stille zu hören.' Die Wahrheit ist: Je älter ich werde, desto tiefer verstehe ich, was damals geschah - und desto weniger brauche ich große Worte.
Es war in jener Nacht, als der Sturm uns überrollte. Ich war jung damals, stolz auf meine Kraft, stolz auf meinen Mut. Ich glaubte, alles im Griff zu haben. Doch als die Wellen über uns zusammenschlugen, brach etwas in mir auf, das lange verborgen war: diese kindliche Angst, dass ich allein sei in einer Welt, die mich jederzeit verschlingen kann. Ich erinnere mich an den Geruch des nassen Holzes, an das Krachen des Sturms, an das Brennen des Salzwassers in meinen Augen - und daran, wie Jesus da lag: schlafend, friedlich, als gäbe es keinen Sturm. Es machte mich damals wütend. Ich schäme mich nicht, das jetzt zu sagen. Ich war wütend aus Angst.
Erst viel später habe ich begriffen, dass sein Schlaf kein Wegsehen war, kein Desinteresse. Sein Schlaf war Vertrauen. Eine Ruhe, die größer war als der Sturm.
Wenn ich heute als alter Mann zurückblicke, dann sehe ich: Mein ganzes Leben war ein Weg zu dieser Ruhe. Nicht, weil ich sie erreicht hätte. Aber weil ich immer wieder zu ihr gerufen wurde. Ich habe manches durchgemacht: Verlust, Streit, Fehler. Und jedes Mal, wenn es in mir stürmte, erinnerte ich mich an seinen Blick, als er damals aufstand.
Viele erzählen gerne davon, wie Jesus den Wind beruhigt hat. Für mich war das nicht das Größte. Das Größte war: Er sah uns an, bevor der Sturm sich legte. Sein Blick kam früher als die Stille.
Heute, wenn die jungen Fischer in Panik geraten, weil ein Sturm aufzieht, setze ich mich hin und atme. Ich habe keine Kraft mehr, ihnen die Netze zu halten oder die Segel zu sichern. Aber ich sage ihnen: 'Wenn ihr glaubt, ihr geht zugrunde - schaut nicht zuerst auf die Wellen. Schaut auf den, der bei euch ist.' Sie lachen manchmal darüber. Aber manche verstehen es - wie ich damals langsam, langsam verstanden habe. Wenn ich ganz ehrlich bin ... in jenen Momenten meiner letzten Jahre habe ich manchmal gespürt, wie ein anderer Sturm in mir tobt: der Sturm des Abschieds, der Angst vor dem Sterben, der Fragen, die keine Antwort haben. Aber dann geschieht etwas Merkwürdiges. Ich schaue über den See, und die Wellen glitzern im Abendlicht, und ich höre in meinem Herzen eine Stimme, die ich damals vor vielen Jahrzehnten am lautesten im Sturm gehört habe:
'Warum hast du Angst?'
Und plötzlich weiß ich: Ich bin nicht allein. Ich war niemals allein. Vielleicht ist das die letzte und tiefste Wahrheit, die das Alter einem schenkt: Dass der Frieden nicht darin liegt, dass der Sturm verschwindet - sondern darin, dass ER im Lebensboot bleibt, bis wir heimgefahren sind.
Und so sitze ich hier, Abend für Abend, mit meinen schwachen Knochen und meinem stiller gewordenen Herzen - und ich danke Gott dafür, dass der Sturm damals kam. Ohne ihn hätte ich den Frieden nie kennengelernt.
Wenn der Wind heute stärker wird, schließe ich die Augen. Ich habe keine Angst mehr. Ich höre nur noch das leise, tiefe Flüstern der Wellen:
'Fürchte dich nicht. Ich bin bei dir. Ich bin in dir. Du bist in mir.'
Und ich weiß: Bald werde ich über den letzten Horizont fahren - und ER wird da sein, im Licht jenseits des Sturms.