Texterläuterung zu Matthäus 7, 1–5

Der blinde Fleck oder: Das Spiegelgesetz des Unbewussten

Text: Matthäusevangelium 7, 1–5 - Übersetzung: Das Buch

1 Fällt kein abschätziges Urteil über andere, damit auch ihr nicht vorschnell abgeurteilt werdet! 2 Denn mit dem Maßstab, den ihr an andere anlegt, werdet ihr auch gemessen werden. Und die Erwartungen, die ihr anderen gegenüber habt, werden auch an euch gestellt! 3 Warum starrst du auf den winzigen Splitter im Auge deines Mitmenschen und nimmst gleichzeitig das dicke Brett nicht wahr, das dir den Blick auf die Wirklichkeit und auf dich selbst vollkommen verstellt? 4 Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Komm her, ich ziehe dir deinen Splitter aus dem Auge! - wenn du gleichzeitig ein dickes Brett mit dir herumschleppst, das dir den Blick versperrt? 5 Damit täuschst du dich selbst und versuchst die anderen zu täuschen. Deshalb: Schau erst einmal der ungeschminkten Wahrheit über dich selbst ins Auge! Dann wirst du auch deinem Mitmenschen helfen können, seinen blinden Fleck zu überwinden.

Texterläuterung

Matthäus 7,1-5 gehört zur Bergpredigt (Mt 5-7), die Jesus an den Hängen nördlich des Sees Gennesaret gehalten hat. Die Landschaft ist sanft hügelig, reich an natürlichen Terrassen, auf denen sich viele Menschen versammeln konnten. Jesus spricht dort zu einer großen Menschenmenge, aber im Blick hat er vor allem seine Jünger.

Zur Zeit Jesu herrschten innerhalb des jüdischen Alltagslebens komplexe soziale und religiöse Spannungen: Fragen nach der rechten Tora-Auslegung, das Bedürfnis nach ethischer Orientierung in einer Gesellschaft, deren religiöse Normen durch römische Besatzung und innerjüdische Vielfalt unter Druck standen, ein Umfeld, in dem man leicht jemandem Fehlverhalten vorwerfen konnte, weil religiöse und soziale Identität eng verknüpft waren. Das alltägliche Leben war geprägt von engen Dorfgemeinschaften, in denen jeder jeden kannte. Urteilen und bewerten gehörte fast automatisch zum sozialen Gefüge. Jesu Warnung 'Richtet nicht' trifft daher mitten ins Leben und entlarvt ein gesellschaftliches Klima, das schnell streng im Urteil war, aber blind für die eigene Begrenztheit.

Mt 7, 1-5 befindet sich gegen Ende der Bergpredigt, im Abschnitt der sogenannten ethischen Weisungen Jesu, die vom Herzen her gedacht sind. Wahre Gerechtigkeit (= richtig vor Gott) entsteht nicht durch äußere Form und strenge Beobachtung der Fehler anderer, sondern durch innere Umkehr, Selbstprüfung und Barmherzigkeit. In diesem Rahmen wirkt Jesu Wort wie eine zentrale Voraussetzung: Wer geistlich wachsen will, muss zuerst den eigenen 'Balken' sehen. Ohne Selbsterkenntnis gibt es keine echte Nachfolge.

'Richten': Das griechische Wort umfasst ein weites Feld: urteilen, verurteilen, über jemanden bestimmen, ein Urteil aussprechen, jemanden für schuldig erklären. Jesus verbietet nicht jede Form von Unterscheidungsvermögen - denn wenig später fordert er seine Jünger auf, 'auf die falschen Propheten zu achten' (Mt 7,15). Gemeint ist also nicht das Erkennen, sondern das selbstherrliche Festlegen des Wertes eines anderen Menschen: das persönliche Abqualifizieren.

Übertreibungen sind typisch für den jüdischen Lehrstil. Ein 'dokos' (griechisch) ist ein massiver Dachbalken, ein 'karphos' (= griechisch) ein winziger Spreißel. Die Pointe liegt in der Lächerlichkeit: Jemand mit einem gesamten Dachbalken im Auge behauptet, den Splitter im Auge des anderen entfernen zu können. Die übertriebene Bildsprache entlarvt die Absurdität moralischer Überheblichkeit.

'Heuchler': Der Begriff bezeichnet ursprünglich den Schauspieler, der eine Maske trägt. Jesus verwendet das Wort für Menschen, die sich moralisch überlegen geben, während sie ihre eigenen Verfehlungen ausblenden. Es ist ein starkes, aber seelsorgliches Wort - es soll zur Selbstprüfung führen, nicht zur Verdammung.