Texterläuterung zu Matthäus 5, 43-48

Text: Matthäusevangelium 5, 43–48 - Einheitsübersetzung neu

Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!

Texterläuterung

Jesus spricht diese Worte wahrscheinlich im Gebiet um den See Gennesaret oder in den Hügellandschaften Galiläas. Galiläa war kulturell gemischt, sozial stark gespalten, politisch angespannt und religiös vielfältig geprägt.

Feindschaft war Alltag: Zwischen jüdischen Dorfgemeinschaften und römischen Besatzern. Zwischen verschiedenen religiösen Gruppen (Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Zeloten). Zwischen den Landbewohnern und den städtischen Eliten. Die Forderung, Feinde zu lieben, trifft also eine konkrete Wirklichkeit: Unterdrückung, wirtschaftliche Ausbeutung, politische Repression und religiöse Konflikte.

Jesus lehrt Menschen, die oft unter 'Feinden' im wörtlichen Sinn litten: Römische Soldaten konnten willkürlich Leistungen einfordern (Mt 5,41). Schuldknechtschaft und Großgrundbesitz bedrohten Bauern (Mt 6,12; 18,23-35). Schuldknechtschaft entsteht, wenn jemand sich verschuldet (z. B. wegen Ernteausfall, Krankheit, Steuern), die Schulden nicht zurückzahlen kann, und deshalb seine Arbeitskraft oder die seiner Familie zur Verfügung stellen muss. Der Betroffene muss für den Gläubiger arbeiten. Seine Freiheit ist eingeschränkt. Der Lohn wird oft direkt mit der Schuld verrechnet. Die Schuld wächst manchmal durch Zinsen weiter - Menschen stecken fest. Familienmitglieder, oft Kinder, konnten ebenfalls betroffen sein. Schuldknechte waren rechtlich gesehen freie Personen, aber wirtschaftlich und sozial voll abhängig.

Mt 5,43-48 gehört zum Schlussabschnitt der Gegenüberstellungen (Mt 5,21-48), in denen Jesus sagt: 'Ihr habt gehört ... ich aber sage euch ...' Diese Gegenüberstellungen dienen nicht der Abschaffung, sondern der Vollendung des Gesetzes (Mt 5,17). Die Feindesliebe ist der Höhepunkt dieser Vollendung.>/p>

'Nächster' meint ursprünglich: den Angehörigen des eigenen Volkes, den Mitmenschen, der einem räumlich oder sozial nahe ist.

'Feind' kann bedeuten: persönlicher Gegner, gesellschaftlicher Gegner, politischer oder religiöse Gegner, Menschen, die einem schaden oder verfolgen.

'Du sollst deinen Feind hassen': Dieser Satz steht nicht im Gesetz des Moses. Jesus zitiert hier verbreitete Interpretationen, die aus Abgrenzungsgeboten entstanden waren. Im Volksbewusstsein war daraus manchmal eine Haltung geworden: 'Freunde lieben - Feinde hassen.' Jesus korrigiert diese Verengung.

'Liebt eure Feinde': Das verwendete ist im Griechischen 'agapáte: nicht romantische, sondern tatkräftige, wohlwollende Liebe.

'Betet für die, die euch verfolgen': Für sie beten verwandelt das Herz. Sie ist die spiritualisierte Form der Gewaltfreiheit.

'Damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet': Typisch semitische Ausdrucksweise: Kinder ähneln ihrem Vater. Gotteskindschaft wird nicht behauptet, sondern gelebt: Wer liebt wie Gott, lebt als Kind Gottes.

'Vollkommen' bedeutet: erfüllt, reif, ganzheitlich, dem Ziel entsprechend. Nicht Perfektionismus, sondern Reife im Sinn göttlicher Barmherzigkeit.

Feindesliebe ist die höchste Form der Gerechtigkeit im Reich Gottes. Sie überwindet die Logik von Vergeltung. Feindesliebe ist Nachahmung Gottes. Feindesliebe ist ein innerer Weg der Freiheit. Sie befreit vom Kreislauf der Gewalt. Feindesliebe ist kein Gefühl, sondern eine Entscheidung. Für 'Feinde' beten, sie segnen, ihnen Gutes tun - das sind konkrete Handlungen. Feindesliebe ist ein eschatologisches Zeichen. Sie zeigt das 'Himmelreich' an, das in Jesus sichtbar ist.