Spiegelbild
oder: Wahre Liebe kennt kein Kalkül

Markusevangelium 14, 1–11

In Jerusalem werden von Jesu Gegnern die letzten Weichen gestellt für seine Tötung. Und ein Preis wird ausgehandelt mit dem, der dem Verhaftungskommando Jesus und seinen Aufenthaltsort "verraten" wird. Das bildet den textlichen Rahmen für ein großartiges Zeichen von Liebe, das eine Frau genau zu dieser Zeit unweit von Jerusalem setzt.

Dort tödliche Feindschaft und Vorbereitung einer grausamen Hinrichtung - hier Liebe, die sich ganz verschenkt.

Lassen wir diese Frau selbst erzählen!

Ich bin Leora aus Jerusalem. Diesen schönen Vornamen - er bedeutet "mein Licht" - haben meine Eltern für mich ausgewählt, weil ich ihnen von meiner Geburt an helle Freude gebracht habe. Das haben sie mir manchmal gesagt. Ich hatte das große Glück, in einer Familie mit viel Mutter-, Vater- und Geschwisterliebe aufzuwachsen.

Um mein dreißigstes Lebensjahr - ich hatte schon längst eine eigene Familie - haben wir Jesus kennengelernt. Mein Mann war beim Schiffbau tätig. Heute würde man ihn als Bauingenieur bezeichnen. Dadurch waren wir eine wohlhabende Familie.

Oft haben wir Jesus zugehört, wenn er von Gott sprach. Alle - auch unsere drei Kinder - waren von ihm begeistert. Seine herzliche Ausstrahlung, seine Freude, sein ganzes Wesen haben uns fasziniert. Seine Worte von seinem ewig liebenden Abba kamen aus seinem Herzen, waren von Liebe und Wärme erfüllt und hatten große Überzeugungskraft. Er redete lebensnah, nicht abgehoben, verkopft und abstrakt wie unsere Theologen. Jede und jeder konnte ihn verstehen. Wir spürten bei ihm, er spricht nicht nur von Gott, sondern verkörpert ihn. Wir erlebten ihn als den, der die Sprache der Liebe fließend spricht. In Scharen kamen Menschen - besonders viele Kinder mit ihren Eltern, Kranke, Arme und Leidende - zu ihm, um seine heilende Nähe zu erfahren, von ihm berührt zu werden, bei ihm das Herz auszuschütten und seine lebensbejahenden, aufrichtenden Worte zu hören.

Eines Tages hörte ich, dass Jesus bei Simon in Betanien zum Abendessen geladen war. Simon gehörte zum Kreis der Pharisäer und war ein Freund Jesu. Simon war früher an Aussatz erkrankt und war sicher, dass er seine Genesung Jesus verdankte.

Schon lange habe ich eine Gelegenheit gesucht, Jesus für alles zu danken, was er mir und meiner Familie Gutes erwiesen hat, und ihm meine Wertschätzung und herzliche Zuneigung zu schenken. Bei uns war es üblich, sofern jemand wohlhabend und im Besitz von kostbaren Ölen war, jemandem als Ausdruck der Dankbarkeit, Hochachtung und Wertschätzung sein Kopfhaar zu salben. Ich hatte hochwertiges, unverfälschtes Nardenöl. Heute würde man sehr teures Parfüm dazu sagen. Nardenöl wird aus den getrockneten Wurzeln und Stängeln der Narde gewonnen. Die Narde gehört zu den Baldriangewächsen und gedeiht nur an den 4000 Meter hohen Hängen des Himalaya-Gebirges. Sie verströmt einen intensiven Duft. Weil sie aus Indien in unser Land Israel importiert werden musste, war die Narde ein Luxusgut. Man bewahrte das Öl in kleinen Alabasterfläschchen auf. Um sie zu öffnen, musste der Flaschenhals gebrochen werden.

Als ich Jesu Haare zu salben begann, richteten alle, die zu Tisch lagen, ihre Augen auf mich. Einige von ihnen übten Kritik an meinem Tun und hielten das teure Öl für Verschwendung. Ich hätte besser das Öl verkaufen und den Erlös an die Armen verteilen sollen. Die Kritiker waren durchwegs Männer.

Meine Einstellung dazu ist eine ganz andere. Liebe kennt kein Kalkül. In der Liebe gibt es kein Zuviel. Liebe ist nie Verschwendung. Wahre Liebe verschenkt sich im Übermaß. Herzensmenschen erkennen das, Kopfmenschen begreifen das nicht.

Das habe ich allen Anwesenden so gesagt. Jesus hat geantwortet: Leora, du hast recht gehandelt. Deine Liebe ist ein treues Spiegelbild der Liebe Gottes. Und den Kritikern sagte er: Arme habt ihr immer unter euch. Es steht euch jeden Tag frei, Arme zu unterstützen.