Kinder sind nicht Besitz

Lukasevangelium 2, 41–52

Kommentar

Loslassen, angieconscious/pixelio.de
Loslassen

Meine lieben Eltern Maria und Josef!

Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich dem Willen meines himmlischen Vaters entsprechen und folgen muss? Ich bin euer Kind, aber nicht euer Eigentum. Euch gehöre ich nicht. Ich gehöre dem, dem jedes Kind gehört und dem wir alle gehören, alle Menschen und alle Geschöpfe: meinem himmlischen Vater. Niemand gehört sich selbst und niemand gehört einem anderen, wir alle aber gehören Gott. Er hat mich euch anvertraut, mich mit eurer Elternliebe durch meine Kindheit und Jugendzeit zu begleiten, dass ich meinen eigenen Weg gehen lernen und zu meiner Berufung finden kann.

Oft wird gesagt, Gehorsam sei eine der größten Tugenden, und eine der wichtigen Aufgaben der Eltern sei es, ihre Kinder brav und untertänig, angepasst und gehorsam zu machen; denn Kinder, die tun, was ihnen gesagt wird, die sich immer so verhalten, wie ihre Eltern erwarten, und sich nicht widersetzen und nicht rebellieren, seien die besten Kinder. Ich aber sage: Es ist der Wille meines himmlischen Vaters, dass Eltern ihre Kinder von klein auf darin fördern und Freiräume dafür schaffen, ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten, zu sich selbst zu finden und fähig zu werden zu eigenständigem Denken, Reden und Handeln.

Das Bild meines himmlischen Vaters vom Menschen ist

- der freie, selbständige Mensch und nicht der blind Gehorchende, der nur ja nicht auffällt, der keinen Widerstand leistet und tut, „was sich gehört”

- der Mensch, der Fehler machen, lernen, wachsen und reifen darf, und nicht der Perfekte, der alles schon hundertprozentig können muss;

- der Mensch, der mutig, beherzt und entschlossen seine eigenen Wege geht, und nicht der Angepasste, der mit den anderen Angepassten in der Masse untergeht;

- der urteilsfähige Mensch, der in der Lage ist, selber zu denken, sich eigene Überzeugungen zu bilden und eigene Entscheidungen zu treffen, und nicht der Mensch, der ohne Bedenken, kritiklos und leichtgläubig übernimmt, was Zeitgeist und Mode vorgeben, und sich nach dem richtet, was „man” denkt, was „man” sagt, was „man” tut und wie „man” sich verhält;

- der Mensch mit Rückgrat, der in aufgerichteter Haltung und mit Selbstvertrauen durchs Leben geht, und nicht der niedergedrückte, zurechtgestutzte und verbogene Duckmäuser und Kriecher, der noch nicht gelernt hat, selbständig zu denken und zu handeln, der seine Meinung noch nicht zu sagen und sie einer anderen Meinung noch nicht entgegenzustellen wagt;

- der glückliche Mensch, der in Urvertrauen auf Gott und in der Freiheit der Kinder Gottes lebt.

Liebe Eltern!

Ein Gärtner pflanzte einen kleinen Baum. Der Baum wuchs heran und streckte seine Äste und Zweige der Sonne entgegen. Es gefiel dem Gärtner nicht, wie der Baum wuchs und sich entwickelte. Der Baum sollte genau nach seinen Vorstellungen wachsen. Einmal wuchs er ihm zu weit nach rechts, ein anderes Mal wieder zu weit nach links und dann zu weit nach oben. Darum holte der Gärtner jedes Mal wieder die Schere und schnitt den Baum zurecht. Als der Baum längst erwachsen war, kam ein Kind mit seinem Vater an ihm vorbei. Das Kind blieb stehen und schaute eine Weile auf den Baum. Dann sagte es zum Vater: „Dieser Baum schaut traurig und unglücklich aus, wahrscheinlich durfte er nicht wachsen, wie er wollte.”

Euer Sohn Jesus