Der große Traum

Matthäusevangelium 13, 1-23

Kommentar

Der deutsche Theologe und Orientalist Joachim Jeremias (1900-1979) hat einen Teil seiner Kindheit in Jerusalem verbracht. Von früh auf interessierte er sich für die Umwelt Jesu, für das Land Palästina mit seinen Sitten und Bräuchen, mit seinen Gepflogenheiten des Alltags, des gesellschaftlichen Lebens, der Landwirtschaft und der Arbeitswelt. Diese Kenntnisse aus jungen Jahren haben später sein wissenschaftliches Forschen als Lehrer des Neuen Testamentes nachhaltig geprägt.

In seinem Werk „Die Gleichnisse Jesu” verschafft uns Joachim Jeremias Einblicke, wie und weshalb die Gleichnisse Jesu in der Zeit der ersten ChristInnen umgeformt, umgedeutet und erweitert worden sind. Er legt alle darübergelegten Schichten frei, um zu ihrer ursprünglichen Form, nämlich zu den Gleichnissen aus dem Munde Jesu vorzustoßen.

Für seine Gleichnisse hat Jesus keine Geschichten erfunden, sondern Begebenheiten und Geschehnisse des Alltags in seiner Heimat als Bildmaterial verwendet.

Joachim Jeremias weist nach, dass die allegorische Deutung (Bild-für-Bild-Deutung) im Sämanngleichnis (im Schlussteil dieses Evangeliums) nicht von Jesus stammt, sondern von ChristInnen des ersten Jahrhunderts nach Christus hinzugefügt worden ist.

Bei näherer Betrachtung des Sämanngleichnisses tauchen Ungereimtheiten auf. Warum sät der Mann Getreidekörner auf einen Weg, auf felsigen Boden und in Dornen, wo er doch von vornherein weiß, dass hier der Samen nicht aufgehen kann? Wenn wir die Hintergründe kennen, lässt sich diese Frage leicht beantworten. In Palästina haben die Bauern erst nach der Aussaat den Boden umgeackert und den Samen in die Erde eingearbeitet. Der Sämann hat die Getreidekörner also auf das ungepflügte Feld gesät.

Bei dem Weg, auf den Getreidekörner fielen, wird es sich um getretene Pfade gehandelt haben, die entstanden sind, wenn die Leute des Dorfes ihre Wege über abgeerntete Getreidefelder abgekürzt haben. Beim Pflügen nach der Aussaat sind diese „Wege” aufgebrochen worden.

Die Böden in Palästina sind allgemein sehr karg. Manche Flächen sind nur von ganz wenig Erde bedeckt. Der Sämann konnte von oben nicht erkennen, wie dünn die Erdkruste ist, sonst hätte er solche Flächen gleich nicht besät.

In der Zeit zwischen der Ernte und der nächsten Aussaat sind auf den Feldern unter vielen anderen Gräsern und Pflanzen auch Dornen und Disteln gewachsen. Der Bauer hat diese Gewächse vor der Aussaat nicht entfernt, sondern nach der Aussaat umgepflügt.

Der entscheidende Punkt für die Deutung dieses Gleichnisses liegt auf dem Kontrast zwischen Anfang und Ende, zwischen dem armseligen, spärlichen, eher aussichtslos scheinenden Beginn beim Anbau des Getreides und der reichen Ernte am Schluss.

Das Sämanngleichnis steht für die große Hoffnung Jesu auf das Kommen des Reiches Gottes. Unsere Welt sieht ganz danach aus, dass das Reich Gottes noch Lichtjahre entfernt ist. Hass, Feindschaft und Intrigen, Anklagen, Schuld zuweisen und Verurteilen, Missgunst, Neid und Eifersucht, Gewalt, Vernichtung und Kriege und vieles andere Lebensbedrohende, Lebensverneinende und Lebenszerstörende prägen täglich unsere Welt im Kleinen wie im Großen. Das war zu Jesu Zeiten genauso wie heute.

Jesus ist - und das will er uns mit diesem Gleichnis vermitteln - zutiefst erfüllt von dem großen Traum, dass die Menschen das Reich Gottes Schritt für Schritt lernen und dass es einmal alle Menschen erlernt haben werden. Diese Gewissheit schöpft Jesus aus seinem Vertrauen, dass sein Abba dafür sorgt, dass dies geschieht, dass das Reich Gottes wächst und schließlich vollendet ist.

Gott ist in Jesus Mensch geworden, um für uns der Lehrmeister des Reiches Gottes zu sein.