Kommentar zu Lukas 18, 1-8

Jesus hat die Gleichnisse in einer jeweils einmaligen Situation seiner Gottesverkündigung erzählt. Den jeweiligen Bildstoff hat er aus dem Leben seiner Heimat genommen und dabei oft an konkrete Begebenheiten angeknüpft.

Nach Jesu Sterben und Auferstehen haben die Gleichnisse Jesu in der Urkirche "gelebt". Sie wurden von den Verkündern der Botschaft Jesu zunächst mündlich weitergegeben und noch später erst aufgeschrieben.

In der Urkirche haben die Gleichnisse aus verschiedenen Gründen Akzentverschiebungen und Umdeutungen erfahren:

Bei jedem Gleichnis gilt es daher, den ursprünglichen Sinn herauszuarbeiten: Was hat Jesus seinen Hörern damit sagen wollen?

Der Einleitungssatz des Gleichnisses vom Richter und der Witwe enthält eine Deutung des folgenden Gleichnisses. Sie setzt den Akzent auf die Beharrlichkeit, Hartnäckigkeit und Unnachgiebigkeit der Witwe. Diese Deutung jedoch trifft wohl kaum den ursprünglichen Sinn des Gleichnisses.

Wortgetreue Übersetzung: Ein Richter war in einer Stadt Gott nicht fürchtend und einen Menschen nicht achtend.

"Gott nicht fürchtend": er kümmert sich um Gott und Gottes Willen nicht.

"einen Menschen nicht achtend": er pfeift darauf, was man ihm nachsagt und wie man über ihn denkt.

Die Witwe kann auch eine junge Frau gewesen sein. Das Heiratsalter der Mädchen lag normalerweise zwischen 13 und 14 Jahren. Daher gab es auch ganz junge Witwen. Weil sich die Witwe an einen Einzelrichter wandte, handelte es sich um eine Geldangelegenheit, z. B. Schulden, die ihr jemand nicht zurückzahlte oder ein Erbteil, das ihr vorenthalten wurde.

Ihre einzige "Waffe" ist ihre Beharrlichkeit und Unnachgiebigkeit.

Mit dem Widersacher ist der Prozessgegner gemeint.

Das griechische Wort, das hier mit "ins Gesicht schlagen" übersetzt ist, hat auch die Bedeutung "quälen". Somit ist auch die Übersetzung möglich: damit nicht bis zum Ende, kommend, sie quält mich.

"Der Herr aber sprach: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern bei ihnen zögern? Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen." In diesen Sätzen wird das Gleichnis ein zweites Mal gedeutet, und zwar in eine andere Richtung. Nun wird das Verhalten des Richters in den Mittelpunkt gerückt. Er wird als Gegenbild Gottes hingestellt. Wenn schon dieser Richter, der keine Achtung vor Gott und den Menschen, das heißt, keine Liebe zu Gott und zu den Menschen hat, zwar erst nach langer Zeit und nur wegen der auf Dauer schwer zu ertragenden Lästigkeit der Witwe schlussendlich ihr doch zu ihrem Recht verhilft, um wieviel mehr wird sich der liebende Gott von der Not seiner Geschöpfe anrühren lassen und ihnen helfen. Er läßt sich nicht erst schön bitten und nach langem Beknien und Bedrängen gnädig erweichen, sondern ist immer für seine Geschöpfe da, weil er sie liebt. Diese zweite Deutung trifft mit hoher Wahrscheinlichkeit den ursprünglichen Sinn des Gleichnisses, also das, was Jesus mit diesem Gleichnis eigentlich vermitteln wollte.

Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde (noch) Glauben vorfinden? Mit diesem Wort wollte Jesus seinen Zuhörern sagen: An der Liebe und Hilfe Gottes braucht ihr nicht zu zweifeln. Um etwas anderes sollt ihr euch Sorgen machen, nämlich dass ihr selber Vertrauen auf Gott und seine Liebe habt.

Wenn Jesus von sich selber sprach, nannte er sich Menschensohn und sprach in der 3. Person von sich. Etwa 50 verschiedene Namen und Titel stehen für Jesus im Neuen Testament, wie z. B. Christus (hebräisch: Messias, deutsch: der Gesalbte), Kyrios (deutsch: Herr) und Sohn Gottes. Sie sind Ausdruck der vielen Bilder, die sich seine Zeitgenossen und auch die Nachwelt von ihm gebildet haben. Jesus hat nur einen Namen für sich verwendet und der lautet "Menschensohn". "Menschensohn" kommt aus der jüdischen Religion. Schon hier ist der Begriff mehrdeutig. Menschensohn kann für das Volk Israel stehen; es kann der endzeitliche Retter Israels sein, der Heilskönig der Endzeit oder ein Himmels- bzw. Engelswesen; es kann eine endzeitliche Richtergestalt sein; schließlich lässt es der damalige jüdische Sprachgebrauch zu, dass Menschensohn eine Bezeichnung für den Menschen schlechthin ist. Das Neue Testament enthält die Bezeichnung Menschensohn 83 Mal. Was meinte Jesus damit, wenn er sich Menschensohn nannte? Jesus hat es vermieden, sich Messias zu nennen. Denn er war ein ganz anderer Messias, als das israelitische Volk erwartet hat. Erwartet wurde ein mächtiger Herrscher-Messias. Jesus aber ist der Messias, der von Macht im Sinne von Herrschen und Gewalt nichts hält, sondern einzig auf die Macht der Liebe und der Menschlichkeit setzt.