Befreiungen

Markusevangelium 7, 24–30

Diese Erzählung stellen wir unter die Überschrift "Befreiungen"; denn es geht nicht nur um Befreiung einer Einzelperson.

In wörtlicher Übersetzung ist vom "Töchterchen" und von "Hündchen" die Rede. Wenn einem Wort die Endsilben "-lein" oder "-chen" angefügt werden, handelt es sich um eine Verkleinerung bzw. Verniedlichung.

Mit den Hündchen sind wohl die Schoßhündchen gemeint.

Die Mutter spricht von ihrer längst erwachsenen Tochter als vom Töchterchen, vom Töchterlein. Es ist auch anzunehmen, dass sie ihren Vornamen verkindlicht, indem sie ihn verkürzt und ein "i" anhängt. Sie hält ihre Tochter offensichtlich noch für ein Kind und behandelt sie wie ein Kind. Sie hält ihre Tochter klein. Sie lässt ihre Tochter nicht los, hält sie fest, hält sie in Abhängigkeit, gibt sie nicht frei. Sie lässt sie nicht gehen, nicht ihre eigenen Wege gehen und lässt sie nicht frei leben. Sie verweigert ihrer Tochter Selbständigwerden, Selbstbestimmung. So kann sich die Tochter selbst nicht finden und auch das Leben nicht. Sie ist eine erwachsene Unmündige, ein erwachsenes Kind.

Wahrscheinlich handelt es sich um Co-Abhängigkeit. Aus Bequemlichkeit verweigert sich die Tochter auch selbst, ihre Kindheit zu verlassen und erwachsen zu werden. Sie "genießt" das Bemuttert werden und lebt noch gern im "Hotel Mama". Die Abnabelung der Tochter von der Mutter steht noch aus. Das ist krankhaft auf beiden Seiten: auf Seiten der Mutter wie auf Seiten der Tochter. Der Dämon sitzt in beiden: in der Mutter und in der Tochter. Beide brauchen "Befreiung" und Heilung.

Jesus ist Therapeut. Die Syrophönizierin hat von ihm gehört und kommt zu ihm in Therapie. Ihr Leidensdruck ist groß. Sie ist voll Zutrauen zu Jesus. Sie setzt großes Vertrauen in ihn. In der Begegnung mit ihm - das heißt in therapeutischen Gesprächen - lernt die Mutter das Loslassen ihrer Tochter. Das ist die Befreiung vom Dämon für sie selbst und in der Folge für ihre Tochter.

Eine zweite Befreiung klingt in dieser Erzählung an. Sie betrifft Jesus selbst. Jesus war Jude. Von klein auf wurde er geprägt von der damaligen jüdischen Religion und von dem Glauben, dass das Volk Israel von Gott auserwählt ist, dass Gott sein Heil ausschließlich dem Volk Israel schenkt und nichtjüdische Völker vom Heil ausschließt. Dieses Bild vom ausgrenzenden Gott war im religiösen Judentum tief verankert.

Die Erzählung berichtet, dass Jesus der Syrophönizierin zuerst seine Aufmerksamkeit versagt. Sie lebt im nichtjüdischen Ausland. Sie gilt für Juden als Heidin, als von Gott Ausgegrenzte. Mit der Begründung, er sei von Gott nur zu den Menschen im Volk Israel gesandt, schlägt er die Bitte der "heidnischen Frau" um "Befreiung" ihrer Tochter vom Dämon vorerst aus.

Durch ihr tiefes Vertrauen auf ihn lernt Jesus, dass Gott niemanden ausschließt, dass er die Menschen nicht unterteilt in Juden und Heiden, sondern dass er der Gott aller Völker und Geschöpfe ist.

Was der Verfasser des Markusevangeliums hier als einmaliges Ereignis darstellt, wird ein längerer Reifungs- und Entwicklungsprozess Jesu schon vor seinem öffentlichen Wirken gewesen sein. Denn sonst wäre Jesus mit seiner Gottesverkündigung von vornherein nicht ins benachbarte Ausland gegangen.