Das Lebensglück steht auf dem Spiel

Markusevangelium 9, 42–50

Jesus, wir wenden uns an dich, uns deine Worte zu erklären.

Jesus:

Gleich vorweg: So wie der Text wiedergibt, habe ich nicht gesprochen. Das war nicht meine Ausdrucksweise. Der Verfasser des Evangeliums hat so geschrieben. Meine Worte waren immer von Liebe, Güte, Menschenfreundlichkeit, Barmherzigkeit, Sanftmut und Gewaltlosigkeit erfüllt. Niemals habe ich über jemanden den Stab gebrochen und geurteilt, es wäre gut, ihn in der Tiefe des Meeres zu versenken. Keinen Menschen habe ich zu seelischer oder körperliicher Selbstverstümmelung aufgefordert. Zu keiner Zeit habe ich Menschen mit Höllenstrafen bedroht.

Die Sache allerdings, um die es mir hier geht, ist ernst. Sie ist lebenswichtig hier und jetzt, nicht irgendwann später. Viel steht auf dem Spiel: Gottvertrauen oder Angst und Hoffnungslosigkeit, Gelingen oder Zerbrechen des Lebens, Lebenserfüllung oder seelischer Tod, Freude am Leben, Lebenssinn, Glückseligkeit oder Hölle auf Erden.

Die drastischen Bilder des Autors des Evangeliums "mit einem Eselsmühlstein um den Hals in die Tiefe des Meeres werfen", "Hand und Fuß abhauen", "Auge ausreißen", "in die Hölle geworfen werden" wollen wachrütteln und auf die angesprochene Ernsthaftigkeit aufmerksam machen. Bilder deuten auf etwas hin, stehen für etwas, aber sind nicht real zu verstehen.

"Wer einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zur Sünde verlockt, verleitet, verführt", "wenn deine Hand, dein Fuß, dein Auge dich zur Sünde verlockt, verleitet, verführt":

Das griechische Wort für "Sünde" kommt ursprünglich vom Schießsport, es bedeutet "Zielverfehlung". Die höchsten Ziele habe ich schon genannt: Gottvertrauen, Gelingen des Lebens, Lebenserfüllung, Freude am Leben, Lebenssinn, Glückseligkeit.

Jemand kam zu mir mit der Frage: "Jesus, sag mir, welches ist das höchste Ziel meines Lebens?" Ich habe ihm mit uralten, aber immer gültigen Worten geantwortet: "Lerne, Gott zu lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit all deinen Gedanken! Das ist das erste und wichtigste Ziel deines Lebens. Ebenso wichtig ist das zweite: Lerne, deine Mitgeschöpfe zu lieben und dich selbst! Und du wirst leben und die Fülle des Lebens haben."

Andere oder dich selbst von den wichtigsten Zielen abzubringen, abzuhalten, wegzuführen, hat schwerwiegende Konsequenzen. Deine Existenz, dein Lebensglück und die Existenz und das Lebensglück anderer sind in Gefahr.

Geh achtsam, würde-, liebe- und friedvoll, aufbauend und aufrichtend, sanft und gewaltfrei mit dir selbst und mit deinen Mitgeschöpfen um! So förderst du deine eigene Lebenserfüllung und die der anderen.

Danke, Jesus!

Die gesegnete Stadt

Zu dieser Evangelienstelle schrieb Khalil Gibran in seinem Buch "Der Narr" die Erzählung „Die gesegnete Stadt”.

In meiner Jugend erzählte man mir von einer Stadt, wo jedermann nach der Heiligen Schrift lebte. Da sagte ich: „Ich will diese gesegnete Stadt suchen.” Es war weit dorthin, und ich traf große Vorbereitungen für meine Reise. Nach vierzig Tagen erblickte ich mein Ziel, und am einundvierzigsten Tag betrat ich die Stadt.

Und siehe, alle Bewohner hatten nur ein Auge und nur eine Hand. Ich war überrascht und dachte bei mir: Sollten gerade jene in dieser so heiligen Stadt nur ein Auge und nur eine Hand haben? Dann sah ich, dass auch sie erstaunt waren und sich über meine beiden Hände und meine zwei Augen wunderten.

Während sie so sprachen, trat ich auf sie zu und fragte: „Ist dies die gesegnete Stadt, wo jedermann nach der Heiligen Schrift lebt?” Sie antworteten mir: „Ja, sie ist es.”

„Aber was”, fragte ich weiter, „ist euch zugestoßen, und wo sind eure rechten Augen und eure rechten Hände?” Da ging eine Bewegung durch die Menge, und sie sagten: „Komm und sieh.”

Dann führten sie mich in die Mitte der Stadt, zum Tempel. Darin sah ich eine große Zahl verwester Hände und Augen liegen. Erschrocken fragte ich: „Welcher Eroberer vollbrachte solche Gräueltat an euch?"”

Wieder ging ein Raunen durch die Menge. Einer der Ältesten trat vor und sprach: „Das haben wir selbst getan. Gott machte uns zum Sieger über das Böse, das in uns wohnte.”

Darauf führte er mich zum Hochaltar. Alle folgten uns. Und er zeigte mir eine in Stein gehauene Inschrift, und da las ich:

„Wenn dein rechtes Auge dir zum Stein des Anstoßes wird, dann reiße es aus und wirf es von dir; denn es ist besser für dich, eines deiner Glieder zu verlieren, als dass dein ganzer Leib der Hölle vorgeworfen werde. Und wenn deine rechte Hand dir zum Stein des Anstoßes wird, dann haue sie ab und wirf sie von dir; denn es ist besser für dich, eines deiner Glieder zu verlieren, als dass dein ganzer Leib der Hölle vorgeworfen werde.”

Da verstand ich. Ich wandte mich der Menge zu und rief: „Hat kein Mann und keine Frau unter euch zwei Augen und zwei Hände?”

Sie antworteten: „Nein, kein einziger. Keiner ist ganz, außer jene, die noch zu jung sind, um das Gebot der Schrift zu verstehen.”

Als wir aus dem Tempel herauskamen, verließ ich augenblicklich jene gesegnete Stadt, denn ich war nicht mehr zu jung, um das Gebot der Schrift zu verstehen.