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Die Geschichte vom Tempel mit den tausend Spiegeln
Ein Hund kommt in den Tempel mit tausend Spiegeln. Als ihm plötzlich tausend Hunde entgegenblicken, bekommt er es mit der Angst zu tun. Sofort beginnt er zu bellen und bissig in die Spiegel zu schauen. Im gleichen Moment blicken ihm tausend bellende Hunde mit bissiger Miene entgegen. Entsetzt verlässt er den Tempel und denkt, die Welt ist schlecht und alle begegnen mir feindlich.
Ein anderer Hund kommt in den Tempel mit tausend Spiegeln. Als ihm plötzlich tausend Hunde entgegenblicken, beginnt er freundlich mit seinem Schweif zu wedeln. In der gleichen Sekunde wedeln ihm tausend Hunde mit freundlichen Blicken entgegen. Entzückt verlässt er den Tempel und denkt, die Welt ist schön und alle sind mir gut gesinnt.
Keine Feindbilder im Reich Gottes
Text: Matthäusevangelium 5, 43–48 - Einheitsübersetzung neu
Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!
Tiefenpsychologische Betrachtung
Dieses Bild ist ein eindrucksvolles Sinnbild für ein zentrales Prinzip der Tiefenpsychologie: die Projektion. Der Hund begegnet in der Welt nichts anderem als sich selbst. Was er nach außen trägt - Aggression oder Vertrauen, Angst oder Offenheit - kehrt in vielfacher Gestalt zu ihm zurück. Die Spiegel sind Ausdruck der inneren Welt, die sich im Außen spiegelt.
C. G. Jung beschreibt dieses Phänomen als Projektion des Unbewussten: Wir erleben andere Menschen und Situationen nicht einfach 'objektiv', sondern stets durch den Filter unserer eigenen inneren Bilder, Ängste und Wünsche. Der bellende Hund projiziert seine innere Unsicherheit nach außen - und sieht sich umgeben von Feinden. Der wedelnde Hund hingegen bringt seine freundliche, versöhnliche Seite zum Ausdruck - und findet sie überall wieder.
Die Szene zeigt, dass Veränderung nicht durch äußere Kontrolle entsteht, sondern durch innere Wandlung. Wenn wir unser eigenes Inneres verwandeln, verändert sich auch die Welt, wie wir sie erleben. Der 'Tempel der tausend Spiegel' ist somit ein Bild für den Weg der Selbstwerdung: den Prozess, in dem wir unsere Projektionen erkennen, sie zurücknehmen und immer mehr aus der Tiefe unseres Selbst heraus handeln. Dann verwandelt sich das Spiegelkabinett unseres Lebens - aus einem Ort der Bedrohung wird ein Raum der Begegnung.
Gottes Wort ist Freudenbotschaft für uns
Zwei kleine Hunde betreten einen Raum voller Spiegel. Überall, wohin sie blicken, sehen sie sich selbst. Der obere Hund ist ängstlich und bellt laut. Sofort blicken ihm aus allen Richtungen bellende, zähnefletschende Hunde entgegen. Er glaubt, die Welt sei feindlich. Der andere ist ruhig und freundlich, mit einem wedelnden Schwanz - und plötzlich lächeln ihm aus allen Spiegeln fröhliche Hunde entgegen. Dieselben Spiegel. Dieselbe Welt. Aber ein völlig anderes Erleben.
Diese kleine Szene ist ein Gleichnis für unser Leben. Vieles, was uns begegnet, ist ein Spiegel unseres Inneren. Unsere Haltung, unsere Worte, unsere Stimmung rufen Resonanz hervor. Wer ständig mit Misstrauen schaut und anderen misstrauisch begegnet, wird häufig Misstrauen erfahren. Wer in allem zuerst das Böse vermutet, wird es auch überall entdecken. Wer dagegen mit Offenheit und Güte auf Menschen zugeht, wird meist Offenheit und Güte zurückgeschenkt bekommen.
Jesus sagt: 'Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen' (Mt 5,7). Und: 'Mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch messen' (Mt 7,2). Diese Worte sprechen von demselben Prinzip. Was wir aussenden, kommt zurück. Was wir in die Welt legen, wird uns selbst begegnen.
Die tiefere Einladung dieses Bildes lautet daher: Beginne bei dir. Verändere dein Herz. Lass Misstrauen, Bitterkeit und Angst los - und kultiviere Freundlichkeit, Geduld und Liebe. Nicht, weil die Welt dann sofort perfekt wird, sondern weil du selbst sie anders wahrnimmst und sie durch dein Sein verwandelst.
So wie die kleinen Hund lernen: Nicht die Welt ist böse oder gut - sie spiegelt nur zurück, was in uns lebt. Der Tempel der tausend Spiegel wird zum Raum der Gnade, wenn wir selbst gnädig werden. Und er bleibt ein Ort der Feindschaft, wenn wir Feindschaft hinaustragen.
Darum ruft uns Christus zu: 'Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist' (Lk 6,36). Lass uns heute neu beginnen - mit einem freundlichen Blick, mit einem Wort, das aufbaut, mit einer Geste der Zuwendung. Dann wird sich unser Spiegelbild verwandeln. Dann wird aus einer kalten Welt ein Raum voller Wärme.