Im Augenblick leben

Markusevangelium 10, 13-16

Jesus, du sagst uns: 'Menschen, die beschaffen sind wie Kinder, gehört das Reich Gottes. Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird keinesfalls in es hineinkommen.' Heißt das, dass Kinder das Reich Gottes leben? Heißt das auch, dass wir als Kinder das Reich Gottes gelebt, es aber später verlernt haben?

Jesus:

Ja, so versteht ihr es recht.

Jesus, erklärst du uns, wie Kinder Reich Gottes leben?

Jesus:

In der frühen Kindheit haben Kinder eine Fähigkeit, die ihnen beim weiteren Aufwachsen mehr und mehr abhanden kommt. Der frühen Kindheit Entwachsene sind in Gedanken oft überall, nur nicht im Hier und Jetzt, in dem, was sie gerade tun und erleben. Sie planen schon die nächsten Aufgaben und setzen sich schon mit möglichen damit verbundenen Problemen auseinander. Oder sie hadern mit dem, was war, sie hängen dem nach, was sie hätten besser machen können, oder sie können sich nicht von früheren Kränkungen lösen, die ihnen zugefügt wurden. Innerlich sind sie überall, nur nicht da, wo das Leben gerade stattfindet. So verhalten sich auch Menschen, die manches gleichzeitig machen, etwa Frühstücken und Zeitunglesen miteinander, oder zur selben Zeit Bügeln, Telefonieren und Fernsehen, oder zugleich Autofahren, Radiohören, Telefonieren und etwas Planen.
Kleine Kinder leben im Augenblick. Beobachtet kleine ins Spiel versunkene Kinder! Mit Freude und Begeisterung, mit ungeteilter Aufmerksamkeit und voller Konzentration geben sie sich dem hin, was sie gerade tun. Da vergessen sie alles andere. Gelassenheit und Ruhe gehen dabei von ihnen aus. Sie leben in der Gegenwart, zeitlos von einem Moment zum andern. Weil sie den Augenblick leben können, können sich Kinder so tief freuen und glücklich sein. So leben sie das Reich Gottes und das, was wir Ewigkeit nennen. Reich Gottes und Ewigkeit kennen weder Raum noch Zeit.
Das 2.Buch Mose im Alten Testament erzählt uns die Geschichte der Gottesbegegnung des Mose am brennenden Dornbusch. Aus dem Dornbusch vernimmt Mose Gottes Worte. Er fragt Gott nach seinem Namen. Gott antwortet ihm: Ich bin JAHWE. Jahwe heißt ICH BIN. Somit bedeutet 'Ich bin Jahwe': Ich bin der ICH BIN. Gott ist der ICH BIN. Gott kennt nicht Anfang und nicht Ende, nicht Vergangenheit und nicht Zukunft. Er ist zeitlose, pure Präsenz.
Wer im Augenblick lebt, erfährt Ewigkeit und Einheit mit dem Göttlichen.

Jesus, können wir das Leben im Augenblick wieder neu lernen. Wenn ja, wie?

Jesus:

Ihr werdet es wieder lernen, indem ihr es tut und jeden Tag einübt.
Ich lege euch eine praktische Übung ans Herz. Gönnt euch jeden Tag ein paar Mal einige Minuten dafür. Das nimmt gar nicht viel Zeit in Anspruch. Setzt euch entspannt hin und konzentriert euch auf euer Atmen. Bei jedem Atemzug sprecht leise das Wort 'scha-lom', beim Einatmen 'scha' und beim Ausatmen 'lom', oder den Gottesnamen 'Jah-we' oder 'Je-sus', beim Einatmen 'Jah' bzw. 'Je' und beim Ausatmen 'we' bzw. 'sus'.
Diese Übung hilft euch, wegzukommen von den Gedanken, die euch gerade durch den Kopf schwirren, und von den Gefühlen, die gerade durch euch fließen, hilft euch auch, zu Ruhe und Entspannung zu finden und im Augenblick zu verweilen. Durch diese Übung werdet ihr langsam lernen, achtsam zu sein beim Atmen, beim Gehen, beim Händewaschen, ja bei allem, was ihr gerade tut, und achtsam umzugehen mit euch selber, mit Menschen, Tieren, Pflanzen und allen Dingen. Wer achtsam auf seinen Atem achtet, wer achtsam seine Schritte geht, wer achtsam den Löffel in die Hand nimmt, wer ganz bei dem ist, was er gerade tut, kommt in Berührung mit dem Leben im Augenblick.
Achtsamkeit, Bewusstheit, im Augenblick leben gibt eurem Leben neue Qualität, sie erfüllt euer Leben mit Würze, Tiefe, Lebendigkeit und Freude. Da seid ihr ganz gegenwärtig, ganz in eurer Mitte, ganz eins mit euch und allen Geschöpfen und Dingen. Achtsam zu leben hat auch Krankheiten vorbeugende und heilende Wirkung, hat in der Behandlung von körperlichen und seelischen Leiden hohen Stellenwert.
Wie gesagt: Achtsamkeit wird euch nicht geschenkt. Ihr müsst sie täglich üben und tun.

Danke, Jesus. Wir loben und preisen dich.

Zitate

Ein Zen-Mönch wurde einmal gefragt, wie er trotz seiner vielen Beschäftigungen immer so gesammelt sein könne.
Er sagte:

Wenn ich sitze, dann sitze ich,
wenn ich stehe, dann stehe ich,
wenn ich gehe, dann gehe ich,
und wenn ich ankomme, dann komme ich an ...

Da fielen ihm die Fragesteller ins Wort und sagten: Das tun wir auch, aber was machst du noch darüber hinaus?
Er sagte wiederum:

Wenn ich sitze, dann sitze ich,
wenn ich stehe, dann stehe ich,
wenn ich gehe, dann gehe ich,
und wenn ich ankomme, dann komme ich an ...

Wieder sagten die Leute: Das tun wir doch auch!
Er aber sagte zu ihnen:

Nein,
wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon,
wenn ihr steht, dann geht ihr schon,
wenn ihr geht, dann glaubt ihr euch schon am Ziel ...

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Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen;
mein sind die Jahre nicht, die etwa mögen kommen;
der Augenblick ist mein, und nehm ich den in acht,
so ist der mein, der Zeit und Ewigkeit gemacht.

Andreas Gryphius, deutscher Dichter (1616-1664)

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Sei gegenwärtig in allem, was du tust, die einzige Wirklichkeit ist jetzt. Solange du Vergangenem nachhängst oder Zukünftigem nachstellst, bist du nicht wirklich hier, am Leben.

Zen-Buddhismus

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Der Augenblick stellt keine Fragen, noch kennt er Zweifel, verliert sich nicht in der Vergangenheit, noch hält er Ausschau nach der Zukunft, er genügt sich selbst, kennt kein Urteil, nur das Sein, und wenn du in ihm weilst, dann fühlst du dich geborgen.

Petra Speth, Sozialpädagogin

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Der gegenwärtige Augenblick ist das Fenster, durch das Gott in das Haus meines Lebens schaut.

Meister Eckhart, deutscher Theologe, Philosoph, Mystiker (1260-1328)

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Nur wer sich ganz dem Augenblick hinzugeben versteht, mag etwas hervorbringen, das keine Zeit zerstört.

Arthur Schopenhauer, deutscher Philosoph (1788 - 1860)