Heilen statt zurechtweisen

Matthäusevangelium 18, 15-20

Manche Worte, die uns die Verfasser der Evangelien als Jesusworte überliefern, haben sie Jesus in den Mund gelegt. Das lässt sich aufzeigen. Wir gehen aber hier nicht näher darauf ein.

Auch die Worte in diesem Evangelium hat Jesus so nicht gesprochen. Der Autor des Matthäusevangeliums lässt hier Jesus sinngemäß sagen: Wenn sich dein Mitmensch versündigt hat, gehe zu ihm, bringe die Angelegenheit zuerst mit ihm allein zur Sprache. Wenn er auf dich hört, hast du deinen Mitmenschen gewonnen. Wenn er aber nicht hört, ziehe noch einen oder zwei andere bei, damit die Sache vor Zeugen geklärt wird. Wenn er auch auf sie nicht achtet, sprich darüber mit der Gemeindeversammlung. Achtet er aber auch auf sie nicht, dann betrachte und behandle ihn wie einen Heiden und einen Zolleinheber, die ja sowieso abtrünnig, durch und durch Sünder und deshalb hoffnungslos verloren sind.

Wie schon gesagt, diese Worte sind nicht der Originalton Jesu, sondern die ihm in den Mund gelegte Vorgehensweise der Christen in der ersten Christengemeinde.

Wir sind überzeugt, dass es jemandem nicht hilft, sein Denken, Reden und Tun zu ändern und ein neues Leben anzufangen, wenn seine Fehler und Sünden von anderen halböffentlich oder öffentlich angeprangert werden, wenn er dafür getadelt, zurechtgewiesen und bestraft wird oder wenn ihm der Kopf gewaschen und ihm Rüffel verpasst werden. Ganz im Gegenteil, Bloßstellen, Vorführen, der Kritik aussetzen und Vorhaltungen machen werden ihn noch tiefer in seine Verfehlungen hineintreiben.

Außerdem sind wir auch selber unvollkommene Menschen. Auch deshalb steht uns nicht zu, uns über die Sünden anderer zu erheben und sie zu maßregeln.

Wir glauben, dass der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, der 1945 im KZ Flossenbürg hingerichtet wurde, mit seinen Worten Jesus sehr nahe kommt, wenn er schreibt: „Wir müssen lernen, die Menschen weniger auf das, was sie tun und unterlassen, als auf das, was sie erleiden, anzusehen.” Das bedeutet: Hinter allem, was Menschen tun und unterlassen, stehen ihre Vorgeschichte, ihre Prägungen, ihre Erfahrungen und ihre Leiden.

Jesus sieht hinter den Zielverfehlungen der Menschen nicht die bösen Sünder und die Schuldigen, die anzuklagen, zu richten und zu verurteilen sind. Er legt in die Wunden der Menschen nicht seine Finger und wühlt und kratzt nicht darin herum, sondern wie ein Arzt sieht er ihre Heilungsbedürftigkeit und legt seine heilenden Hände auf die Menschen.

Jesus ist der göttliche Therapeut. Ausdrücklich sagt er von sich: „Ich bin nicht in diese Welt gekommen um zu richten, sondern um zu retten und um zu heilen, was verwundet ist.” Jesus geht auf Menschen, die Verfehlungen begangen haben, mit einem warmen Herz zu, mit Ehrfurcht und Wertschätzung, mit Einfühlung und Verständnis, ohne Unterschied genauso wie auf andere. Er nimmt die Menschen an, wie sie sind, mit ihren hellen und dunklen Seiten. So schafft er Voraussetzung, dass Vertrauen entstehen und wachsen kann. Erst wenn die Vertrauensbasis hergestellt ist, können Menschen sich öffnen und darüber zu reden beginnen, was in ihnen vorgeht, was ihnen auf ihrem Herz und auf ihrer Seele liegt. Jesus hört einfühlsam zu und schenkt die Zeit, die ein Mensch braucht, um das Herz auszuschütten und alles von der Seele zu reden, was ihn bewegt, und worunter er leidet. Jesus, der göttliche Therapeut, begleitet Menschen sanft, fürsorglich und rücksichtsvoll. Sein Reden und Tun, sein Umgehen und Mitgehen sind für Menschen heilend, dass sie ihren Weg aufgerichtet, mit neuem Mut und neuer Hoffnung, erlöst und befreit weitergehen können.