Handle genauso

Lukasevangelium 10, 25–37

Der Erste und der Zweite schauen weg. Sie gehen achtlos und im weiten Bogen am Schwerverletzten vorbei. Der Dritte hält an, hilft ihm und kümmert sich um ihn. Warum er? Ein Tätigkeitswort, das über den Dritten gesagt wird, gibt uns die Antwort. Im griechischen Originaltext heißt dieses Wort „esplanchnísthe”. Dieser Ausdruck wird manchmal ungenau und unzutreffend mit „er hatte Mitleid” übersetzt. Die angemessene, punktgenaue Übersetzung lautet: er ließ sich innerlich berühren, es ging ihm unter die Haut, es fuhr ihm ins Herz, es bewegte ihn zutiefst, er fühlte sich ein in das Befinden, in die Lage, in die Schmerzen des anderen. Der Dritte hat ein weiches, warmes, einfühlsames Herz. Das hätte man von den beiden Ersten mindestens ebenso wie vom Dritten erwarten dürfen, waren sie ja doch religiöse Amtsträger und bekleideten im Tempel von Jerusalem wichtige Funktionen. Wer sich religiös und gläubig nennt und fromme Übungen verrichtet, muss nicht automatisch warmherzig und einfühlsam sein. Der Dritte ist ein Mann aus Samarien. Die Samariter galten damals in Israel, das sich das auserwählte Volk Gottes genannt hat, als von der Religion abgefallene, ungläubige Menschen und als Feinde Israels. Ausgerechnet einer von ihnen hat ein Herz für den Überfallenen. Er sieht und fühlt seine Not, er hat ein sehendes, ein feinfühlendes und einfühlendes Herz.

Zur Zeit Jesu wurde unter den Lehrern der religiösen Gesetze, Gebote und Verbote und den Gelehrten der heiligen Schriften spitzfindig und auf juristische Weise die Frage diskutiert, wie weit oder wie eng der Begriff „Nächster” zu verstehen ist. Sind Nächste nur die Familienangehörigen? Oder nur die Freunde? Die Landsleute? Jesus antwortet auf die Frage des Gesetzeslehrers nicht theoretisch, sondern mit einer Gleichnisgeschichte. Der Samariter und der schwerverletzt am Boden Liegende sind einander weder Verwandte noch Freunde noch Landsleute, sondern völlig Fremde. Der Samariter fragt nicht, ist der da überhaupt mein Nächster, sondern denkt, egal wer dieser Mensch ist, ich bin ihm Nächster, und er handelt dementsprechend.

Die Frage des Gesetzeslehrers nach dem Nächsten und die Antwort Jesu mit dem Gleichnis stehen im Zusammenhang mit der Ausgangsfrage des Gesetzeslehrers: „Was muss ich tun, um ewiges Leben zu gewinnen?” Die Bezeichnung „ewiges Leben” ist nicht als Leben in der Ewigkeit, als Leben nach diesem Leben zu verstehen, sondern als Lebenserfüllung in diesem Leben jetzt. Die Frage des Gesetzeslehrers lautet mit anderen Worten: Wie finde ich zu einem wirklich sinnerfüllten und geglückten Leben? Jesus verweist ihn auf die heiligen Schriften, auf die Bücher des alten Mose. Und der Gesetzeslehrer zitiert die alttestamentlichen Schriftstellen vom Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe. Jesus bestätigt ihn, die richtigen Stellen angegeben zu haben auf die Frage, wie ein Mensch zur Erfüllung seines Lebens finden kann. Und zuletzt sagt er ihm: Handle nach diesen Bibelworten, die der Samariter im Gleichnis umsetzt, und du wirst leben, du wirst hier und jetzt schon zum sinnerfüllten Leben kommen.

Handle so, und du wirst leben, sagt Jesus auch zu mir. Es ist zu wenig, das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe theoretisch zu kennen. Es geht um das praktische Tun, um mein Tun, und daraus folgend: um meine Lebenserfüllung.

Als unsere Nächsten sehen wir nicht nur die Menschen, sondern alle unsere Mitgeschöpfe, denen wir gerade begegnen.