Eine unspektakuläre Geste
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Eine Geschichte

Miriam arbeitet seit vielen Jahren als Krankenschwester auf einer Station für Schwerkranke. Es ist kein Beruf, der viel Aufmerksamkeit bringt. Niemand filmt, wenn sie mitten in der Nacht aufsteht, weil ein Patient klingelt. Niemand applaudiert, wenn sie einem Sterbenden die Hand hält oder einer alten Frau geduldig zum zehnten Mal erklärt, wie ihre Medikamente wirken.

Eines Morgens kommt sie früher als sonst in ihren Dienst. Die Sonne geht gerade auf, als sie leise das Zimmer eines Patienten betritt, der in der Nacht unruhig geschlafen hat. Sie richtet sein Kissen, deckt ihn liebevoll zu und setzt sich kurz an sein Bett. Sie sagt kein Wort, sie betet nicht laut. Sie sitzt einfach nur da, ihre Hände offen auf den Knien, und wünscht ihm innerlich Frieden.

Niemand sieht diese Szene. Niemand weiß davon. Es wird keinen Eintrag in einer Patientenakte geben und keine Dankesrede. Es ist nur ein Moment im Verborgenen - und doch ist es ein heiliger Augenblick.

Hier geschieht, wovon Jesus spricht: Dasein, Liebe, Hingabe - nicht für die Bühne, nicht für den Applaus, sondern aus einem stillen Herzen heraus.

Eine unspektakuläre Geste - Vom äußeren Tun zum inneren Sein

Text: Matthäusevangelium 6, 1–8.16-18 - Übersetzung: Das Buch

1 Bemüht euch darum, dass ihr mit euren gerechten Taten nicht darauf aus seid, andere zu beeindrucken. Wenn ihr es aber doch so macht, dann werdet ihr keine Belohnung von Gott, eurem Vater im Himmel, erhalten. 2 Wenn du andere mit Geld unterstützt, dann mach daraus kein öffentliches Ereignis. Das machen die frommen Schauspieler in ihren Gottesdiensten und auch auf den öffentlichen Plätzen. Ihr Ziel ist es, von möglichst vielen gesehen zu werden. Ich sage euch: Das ist dann auch alles, was sie dafür als Lohn bekommen werden. 3 Du aber handle so: Wenn du dich für Benachteiligte und Notleidende einsetzt, dann sollst du das, was du getan hast, schnell wieder vergessen. 4 Hilf anderen so, dass du damit kein Aufsehen erregst! Doch dein Vater, vor dem nichts verborgen bleibt, wird dir deinen Einsatz vielfältig zurückerstatten. 5 Wenn ihr betet, so sollt ihr nicht wie die frommen Schauspieler sein! Diese Leute stellen sich am liebsten öffentlich hin, in den Gotteshäusern und an den Hauptstraßen, damit sie von möglichst vielen gesehen werden. Ich sage es euch klipp und klar: Das ist auch schon alles, was sie an Belohnung dafür bekommen werden. 6 Wenn du also beten willst, geh in eine Abstellkammer in deinem Haus und schließ dann die Tür hinter dir zu. Dort kannst du mit deinem Vater im Gebet sprechen. Denn er ist schließlich auch im Verborgenen anzutreffen! Er, der Vater, der in das Verborgene schaut, wird dich dafür belohnen. 7 Wenn ihr betet, dann leiert nicht leere Worte herunter, wie es überall bei den Völkern üblich ist. Die Menschen anderer Nationen glauben, dass sie deshalb auf Erhörung hoffen können, weil sie so viele Worte machen. 8 Macht es ihnen auf keinen Fall nach! Denn euer Vater weiß, welche Bedürfnisse ihr habt, schon lange bevor ihr überhaupt angefangen habt zu beten. 16 Wenn ihr euch im Fasten übt und bewusst auf Nahrung verzichtet, dann setzt keine Leidensmiene auf wie die frommen Schauspieler. Denn sie wollen mit ihren Fastenübungen nur andere beeindrucken. Ich sage es euch klipp und klar: Das ist dann auch schon alles, was sie an Lohn dafür erhalten werden. 17 Wenn du dich aber im Fasten übst, dann bade dich und leg einen besonders guten Duft auf! 18 Auf diese Weise merken die Leute nicht, dass du gerade dabei bist, um Gottes willen auf Nahrung oder andere Dinge zu verzichten. Denn es geht ja beim Fasten nicht um die anderen, sondern um deine Beziehung zu Gott. Er, der dein wahrer Vater ist, sieht alles, auch das, was verborgen ist, und wird dir deinen Lohn geben.

Tiefenpsychologische Betrachtung

Im Zentrum dieses Textes steht eine radikale Einladung: Verlasse die Bühne. Die Bühne, auf der wir uns zeigen, profilieren, inszenieren - sei es durch gute Taten, Frömmigkeit oder Askese. Tiefenpsychologisch gesprochen ist das die Bühne des Ich-Bewusstseins, das nach Anerkennung, nach Bestätigung, nach Spiegelung verlangt. Das Ich möchte gesehen werden. Es möchte wissen, dass es 'gut' ist. Es will für seine Tugend gelobt werden. In der Sprache C. G. Jungs könnte man sagen: Es ist der Teil in uns, der nach außen orientiert ist, nach Persona - jenem sozialen Ich-Bild, das wir der Welt präsentieren. Jesu Worte aber führen uns weg von der Persona hin zum Selbst, zum innersten Zentrum unseres Wesens, das keiner äußeren Bestätigung bedarf. 'Dein Vater sieht im Verborgenen' - das heißt: Das, was wesentlich ist, entzieht sich der Bühne. Es vollzieht sich dort, wo kein Applaus erklingt: im Innersten der Seele.

'Geh in deine Kammer, schließ die Tür und bete dort.' Das ist weit mehr als ein praktischer Ratschlag - es ist ein archetypisches Bild: Die Kammer steht für den inneren Raum, den C. G. Jung als das Selbstzentrum beschreibt - jenen Ort, an dem das Bewusstsein mit dem Unbewussten in Kontakt tritt. Die verschlossene Tür symbolisiert dabei den Rückzug von der Außenwelt. Tiefenpsychologisch bedeutet das: Nur wer den äußeren Lärm verstummen lässt, kann die leisere Stimme aus der Tiefe hören - jene Stimme, die nicht vom Ego stammt, sondern vom göttlichen Grund im Menschen. Das Gebet im Verborgenen ist damit ein Bild für Selbstwerdung: ein Prozess, in dem wir lernen, nicht aus der Erwartung der anderen zu leben, sondern aus der inneren Beziehung zum göttlichen Urgrund heraus zu handeln.

Die drei klassischen geistlichen Praktiken - Almosen geben, Beten, Fasten - können auch als drei tiefenpsychologische Schritte gedeutet werden: Almosen: Der Schritt vom Haben zum Sein. Ich löse mich vom Besitz, vom Festhalten, von der Angst zu kurz zu kommen. Ich entdecke, dass Geben ein Ausdruck innerer Fülle ist. Gebet: Die Hinwendung nach innen. Ich höre auf zu reden, um gehört zu werden, und beginne zuzuhören - der Stimme in der Tiefe. Fasten: Der Verzicht auf Überflüssiges, der den Raum für das Wesentliche öffnet. Ich erkenne, dass mein Wert nicht an Leistung, Konsum oder äußerer Stärke hängt. Alle drei Praktiken verlieren ihre innere Kraft, wenn sie zur Selbstinszenierung werden. Sie werden jedoch zu Wegzeichen der Verwandlung, wenn sie im Verborgenen vollzogen werden.

Psychologisch gesprochen beschreibt dieser Abschnitt einen Übergang: vom 'Schein-Ich' zur Wesensmitte, vom Bedürfnis nach äußerer Bestätigung zur inneren Gewissheit. 'Dein Vater sieht im Verborgenen' heißt: Es gibt einen Ort in dir, an dem du ganz erkannt bist, ohne dich zeigen zu müssen. Einen Ort, an dem du nichts beweisen musst - nicht deine Tugend, nicht deine Frömmigkeit, nicht deine Askese. Dieser Ort ist das Selbst, der göttliche Grund, der in jedem Menschen lebt.

Jung betonte, dass jede echte Wandlung nicht durch äußere Moral, sondern durch innere Bewusstwerdung geschieht. Der Text fordert dazu auf: Nicht die äußere Handlung ist entscheidend, sondern die Haltung, aus der sie hervorgeht. Hier liegt auch die Wandlungskraft dieses Evangeliums: Es ruft uns weg vom 'Tun, um gesehen zu werden' - hin zu einem Tun aus dem Sein heraus.

Die Einladung Jesu ist kein moralischer Appell, sondern ein seelischer Wegweiser: Zieh dich zurück von der Bühne, kehre ein in deine Kammer, öffne dich der göttlichen Gegenwart im Innersten - und aus dieser Verborgenheit heraus wird dein Tun eine andere Qualität bekommen: frei von Eitelkeit, getragen von Liebe.

Gottes Wort schenkt uns Orientierung

Wir leben in einer Zeit, in der fast alles öffentlich wird. Wir posten, was wir tun, wir zeigen, was wir geben, wir erzählen, was uns wichtig ist. Menschen lassen sich vor den Vorhang holen. Oft schwingt ein deutlicher Wunsch mit: 'Seht her! Findet mich gut!' Das ist nicht nur ein Phänomen der sozialen Medien - es ist eine tiefe menschliche Sehnsucht. Gesehen werden. Anerkannt werden. Bestätigt werden. Jesus kennt diese Sehnsucht. Und er weiß, wie leicht sie unser Handeln vergiftet. Darum spricht er diese Worte. Worte, die uns zunächst vielleicht wie eine Mahnung klingen: 'Tu deine Gerechtigkeit nicht vor den Menschen!' - und doch sind sie viel mehr als eine Warnung. Sie sind eine Einladung: Verlasse die Bühne. Denn das Wesentliche geschieht nicht dort, wo der Applaus ertönt - sondern im Verborgenen.

'Geh in deine Kammer, schließ die Tür zu und bete dort.' Das ist mehr als ein praktischer Tipp für ein konzentriertes Gebet. Es ist ein Bild. Die Kammer, von der Jesus spricht, ist ein innerer Raum. Ein Raum, den du nicht mit Schlüsseln öffnest, sondern mit deiner Aufmerksamkeit. In diesem Raum gibt es keinen Applaus, keine Likes, keine Zuschauer. Hier bist du allein - und gerade deshalb nicht einsam. Denn hier begegnet dir der, der dich kennt, ohne dass du etwas vorzeigen musst. Hier darfst du fallen lassen, was du meinst, sein zu müssen. Hier brauchst du nichts zu beweisen. Hier musst du dich nicht rechtfertigen. Hier darfst du einfach nur sein.

Jesus nennt drei Dinge: Almosen geben, Beten, Fasten. Alle drei sind gute Dinge. Aber sie verlieren ihre Kraft, wenn sie zur Selbstdarstellung werden. Denn dann geht es nicht mehr um die Tat selbst, sondern um das Bild, das sie von uns erzeugt. Tief innen aber geht es um etwas anderes: Almosen geben heißt: Ich löse mich vom Festhalten und entdecke, dass Teilen nicht Verlust, sondern Fülle bedeutet. Beten heißt: Ich richte mich aus auf eine Wirklichkeit, die größer ist als mein Ego. Fasten heißt: Ich übe mich darin, das Überflüssige loszulassen, damit das Wesentliche Raum bekommt. Wenn diese drei Wege nicht aus dem Bedürfnis nach Anerkennung gespeist werden, sondern aus der Tiefe, dann werden sie zu Wegmarken der Verwandlung. Dann formen sie uns innerlich - still, leise, verborgen.

Jesus spricht von 'Heuchlern'. Wir denken dabei vielleicht an andere - an Menschen, die mit ihrer Frömmigkeit prahlen oder mit ihrer Tugend hausieren gehen. Aber ehrlich gesagt: Dieser Heuchler wohnt in uns allen. Es ist jener Teil, der geliebt und gesehen werden will, der sich selbst ins rechte Licht rückt. Er ist nicht böse. Er ist menschlich. Aber er darf nicht der Regisseur unseres Lebens sein. Die Worte Jesu sind darum kein moralischer Zeigefinger. Sie sind ein Ruf: 'Lass dich nicht vom äußeren Blick abhängig machen. Suche den inneren Blick, der nicht urteilt, sondern liebt.'

Das vielleicht tröstlichste Bild in diesem Text ist dieses: 'Dein Vater sieht im Verborgenen.' Was du im Stillen tust, was du ohne Aufhebens gibst, was du betest, ohne dass jemand es hört - es geht nicht verloren. Es ist nicht umsonst. Es ist nicht bedeutungslos. Gott sieht nicht nur das große, sichtbare Tun. Er sieht auch die kleinen Gesten, die niemand bemerkt. Er sieht die Tränen, die du heimlich weinst. Er sieht die Treue, die du lebst, auch wenn sie keiner sieht. Er sieht dich - ganz. Und in diesem Blick liegt nicht Urteil, sondern Güte.

Jesu Worte laden uns ein zu einer Revolution - nicht auf den Straßen, sondern in der Tiefe unserer Seele. Sie laden uns ein, aus einer anderen Quelle zu leben. Nicht aus dem Bedürfnis, gesehen zu werden, sondern aus der Gewissheit, gesehen zu sein. Nicht aus der Angst, übersehen zu werden, sondern aus dem Vertrauen, gehalten zu sein. Nicht aus dem Drang, Eindruck zu machen, sondern aus der Freiheit, einfach zu lieben. Diese Revolution beginnt dort, wo du die Tür zu deiner Kammer schließt. Wo du still wirst. Wo du nichts mehr beweisen musst. Wo du Gott begegnest - nicht als Zuschauer, sondern als Quelle.