Draußen vor der Mauer
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Draußen vor der Mauer

Text: Matthäusevangelium 21, 33-41 - Einheitsübersetzung neu

Hört noch ein anderes Gleichnis: Es war ein Gutsbesitzer, der legte einen Weinberg an, zog ringsherum einen Zaun, hob eine Kelter aus und baute einen Turm. Dann verpachtete er den Weinberg an Winzer und reiste in ein anderes Land. Als nun die Erntezeit kam, schickte er seine Knechte zu den Winzern, um seine Früchte holen zu lassen. Die Winzer aber packten seine Knechte; den einen prügelten sie, den andern brachten sie um, wieder einen anderen steinigten sie. Darauf schickte er andere Knechte, mehr als das erste Mal; mit ihnen machten sie es genauso. Zuletzt sandte er seinen Sohn zu ihnen; denn er dachte: Vor meinem Sohn werden sie Achtung haben. Als die Winzer den Sohn sahen, sagten sie zueinander: Das ist der Erbe. Auf, wir wollen ihn umbringen, damit wir sein Erbe in Besitz nehmen. Und sie packten ihn, warfen ihn aus dem Weinberg hinaus und brachten ihn um. Wenn nun der Herr des Weinbergs kommt: Was wird er mit jenen Winzern tun? Sie sagten zu ihm: Er wird diese bösen Menschen vernichten und den Weinberg an andere Winzer verpachten, die ihm die Früchte abliefern, wenn es Zeit dafür ist.

Texterläuterung

Dieses Gleichnis ist in der Fassung, die das Matthäus-Evangelium überliefert, höchstwahrscheinlich eine Umformung des ursprünglichen Gleichnisses Jesu. Die Umformung wurde von der Urkirche vorgenommen.

In diesem Gleichnis drückt die erste Christenheit, die sich lange vor der Zeit der Abfassung des Matthäus-Evangeliums (80-90 n. Chr.) vom religiösen Judentum abgegrenzt und getrennt hatte, ihr Glaubensbewusstsein aus. Sie beanspruchte für sich, das 'neue Israel', das neue Volk Gottes zu sein, das Gott die erwarteten Früchte abliefern wird.

Für die Deutung der Gleichnisse Jesu gilt der Grundsatz, dass jedes Gleichnis nur einen springenden Punkt, nur eine Sinnspitze hat, die herauszufinden ist. Die Einzelheiten des Gleichnisses (= die einzelnen Bilder) sind nicht bedeutend. Sonst würde man das Gleichnis wie eine Allegorie behandeln. In der Allegorie (von griechisch "allegoré-in" = "etwas anders ausdrücken") wird jemand oder etwas als Bild bzw. als Symbol für jemand anderen oder etwas anderes eingesetzt: z. B. der Herr des Weinbergs als Bild für Gott.

Das Gleichnis von den Weinbergpächtern, die dem Weinbergbesitzer die Pacht verweigerten, ist allegorisch zu deuten. Alle Einzelheiten der Erzählung sind auf Personen und Gegebenheiten zu übertragen: Der Herr des Weinbergs ist Gott. Die Pächter sind die religiösen Führer des Volkes Israel (also die Hohenpriester und Schriftgelehrten). Die Knechte, die der Herr des Weinbergs aussendet, um die Pacht einzufordern, sind die alttestamentlichen Propheten. Sie haben häufig ein ähnliches Schicksal erlitten wie die Knechte im Gleichnis. Der Sohn des Weinbergbesitzers und Erbe des Weinbergs, der von den Pächtern umgebracht wird, ist Jesus Christus.

Die Hörer, an die Jesus dieses Gleichnis gerichtet hat, waren die Hohenpriester und Schriftgelehrten, also die religiösen Führer des jüdischen Volkes.

Wahrscheinlich handelte es sich um einen reichen Großgrundbesitzer, der im Ausland lebte.

Die Schilderung, wie der Hausherr seinen Weinberg sorgfältig anlegte, stammt aus dem "Weinberglied" im Buch des Propheten Jesaja (Jes 5, 1-7).

Der Zaun bestand aus einer dichten Dornenhecke und diente zum Schutz vor Wild und Dieben. Die Kelter ermöglichte das Auspressen der reifen Früchte bereits am Ort. Sie bestand aus zwei Trögen. Diese waren entweder ausgehöhlte Steine oder wurden aus Ziegelsteinen angefertigt. Der eine Trog stand etwas höher und war mit dem anderen durch eine Rinne verbunden. Im höheren Trog wurden die Trauben gekeltert. Der Traubensaft lief dann in den unteren Trog. Keltern kommt vom lateinischen Wort "calcáre" und heißt übersetzt "mit den Füßen treten".

Der Turm war einerseits Wachtturm gegen Eindringlinge und Räuber und andererseits Unterkunft für die Pächter während der Erntezeit.

Damals gab es in Palästina einige reiche Großgrundbesitzer, die ihren Besitz an Kleinpächter verpachteten. Von einem solchen wird hier erzählt. Es war nicht unüblich, dass sich Großgrundbesitzer außer Landes aufhielten. Sie waren lediglich daran interessiert, dass die Pacht rechtzeitig bei ihnen abgeliefert wurde. Die Pacht konnte als festgesetzter Geldbetrag oder als bestimmte Menge Früchte oder vereinbarter Teil der Früchte erstattet werden.

Die Stimmung unter den Kleinpächtern gegen die im Ausland lebenden reichen Großgrundbesitzer war oft sehr gereizt und entlud sich manchmal in Wut und offenem Aufstand gegen sie.

In menschlich unbegreiflicher Geduld schickte der Besitzer des Weinbergs nach der Misshandlung und Ermordung der Knechte seinen Sohn. Das macht deutlich, dass mit dem Besitzer des Weinbergs Gott gemeint ist. Kaum ein Mensch würde so handeln wie er.

Das Hinauswerfen des Sohnes aus dem Weinberg und seine Ermordung außerhalb des Weinberges ist eine bildhafte Anspielung auf die Kreuzigung Jesu außerhalb der Stadtmauern von Jerusalem.

Rechtlich war es möglich, dass herrenloses Gut von jedermann in Besitz genommen werden konnte. Das war die eiskalte Überlegung der Pächter im Gleichnis: Wenn wir den Sohn umbringen, können wir selber das Erbe antreten.

Eine abschließende Frage fordert die Hörer der Gleichnis-Erzählung zur Stellungnahme heraus: Was wird der Herr des Weinbergs wohl mit den Pächtern tun? Die Antwort der religiösen Führer des Volkes Israel gibt das allgemeine Empfinden wieder.

"das die erwarteten Früchte bringt": Wortgetreue Übersetzung: das die Früchte tut.

Worte des Lebens für uns

1. Die beiden Bilder - zwei Wege hinaus

Das obere Bild zeigt einen jungen Mann, den zwei andere mit festem Griff hinausführen. Er geht mit gesenktem Blick, wissend, was kommt. Hier wird einer hinausgedrängt, verstoßen, - hinaus vor die Mauer.

Das untere Bild zeigt Jesus, von hinten, allein auf einem staubigen Weg außerhalb der Stadtmauer. Das Licht der Sonne umgibt ihn, doch auf dem Boden liegt der Schatten des Kreuzes. Er geht denselben Weg wie der Sohn im Gleichnis - hinaus, verachtet, abgelehnt.

Die beiden Szenen gehören zusammen: Das Gleichnis wird Wirklichkeit. Die Ablehnung des Sohnes im Gleichnis verweist auf die Ablehnung des Sohnes Gottes.

2. 'Draußen vor der Mauer'

Im biblischen Bild ist 'draußen vor der Mauer' nicht nur ein geographischer Ort. Drinnen, innerhalb der Mauern, herrschen Sicherheit, Ordnung, Besitz, Kontrolle. Draußen ist das, was diese Ordnung stört oder sie infrage stellt. Jesus stand damals für eine Botschaft, die Mauern ins Wanken brachte: Er durchbrach religiöse Grenzen, indem er mit Zöllnern und Sündern aß. Er stellte wirtschaftliche Macht in Frage, indem er vom Teilen sprach. Er kritisierte politische Macht, indem er Gottes Reich über jedes irdische Reich stellte. Die Mächtigen konnten damit nicht leben - also musste er hinaus.

3. Wenn Jesus heute käme

Die Frage ist unbequem: Wer würde ihn heute hinausstoßen? Nicht nur 'die anderen'. Die Botschaft Jesu spricht uns persönlich an, den Blick nach innen zu richten.

- Machtinteressen
Er würde sich gegen jede Form von Unterdrückung stellen - gegen Korruption, gegen Machtmissbrauch in Politik, Wirtschaft und auch in Religionen. Wer seine Macht sichern will, fürchtet solche Worte.

- Reichtum und Besitz
Er würde anecken, wenn unser Wohlstand auf Kosten anderer gebaut ist - auf billigen Arbeitskräften, zerstörter Umwelt, ausgebeuteten Ländern. Wer an seinen Komfort gebunden ist, fühlt sich bedroht.

- Selbstgenügsamkeit und Gleichgültigkeit
Er würde uns nicht in Ruhe lassen, wenn wir Leid vor unserer Tür übersehen - Armut, Einsamkeit, Flüchtlinge, Ausgegrenzte. Wer seine Ruhe liebt, meidet den, der stört.

4. Der unbequeme Jesus

Wir haben oft ein Bild von Jesus, das in unsere religiösen Mauern passt: mild, freundlich, harmlos. Aber der Jesus der Evangelien stört - er stellt Fragen, die weh tun. Und genau das macht ihn für Machthaber und Besitzstandswahrer gefährlich. Damals wie heute gilt: Wer an Mauern festhält, wird ihn hinaustreiben. Vielleicht nicht mit Gewalt - aber durch Ignorieren, Schweigen, Wegschauen.

5. Hoffnung 'draußen'

Doch 'draußen vor der Mauer' ist nicht nur der Ort der Ablehnung. Es ist auch der Ort der Auferstehung. Die Stadtmauer Jerusalems hielt Jesus nicht gefangen. Der Stein wurde weggerollt - draußen, im Garten, begann das neue Leben. Wer Jesus heute draußen sucht - bei den Ausgegrenzten, den Armen, den Vergessenen - findet dort auch den Anfang der Hoffnung. Seine Botschaft sprengt Mauern. Sein Licht leuchtet nicht nur hinter Toren, sondern auf staubigen Wegen, wo der Schatten des Kreuzes liegt.

Vielleicht ist die entscheidende Frage nicht: 'Wer würde Jesus heute hinausstoßen?' Sondern: 'Bin ich bereit, ihm zu folgen - hinaus vor die Mauer, dahin, wo es unbequem wird, aber wo sein Licht leuchtet?'