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Der blinde Fleck oder: Das Spiegelgesetz des Unbewussten
Text: Matthäusevangelium 7, 1–5 - Übersetzung: Das Buch
1 Fällt kein abschätziges Urteil über andere, damit auch ihr nicht vorschnell abgeurteilt werdet! 2 Denn mit dem Maßstab, den ihr an andere anlegt, werdet ihr auch gemessen werden. Und die Erwartungen, die ihr anderen gegenüber habt, werden auch an euch gestellt! 3 Warum starrst du auf den winzigen Splitter im Auge deines Mitmenschen und nimmst gleichzeitig das dicke Brett nicht wahr, das dir den Blick auf die Wirklichkeit und auf dich selbst vollkommen verstellt? 4 Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Komm her, ich ziehe dir deinen Splitter aus dem Auge! - wenn du gleichzeitig ein dickes Brett mit dir herumschleppst, das dir den Blick versperrt? 5 Damit täuschst du dich selbst und versuchst die anderen zu täuschen. Deshalb: Schau erst einmal der ungeschminkten Wahrheit über dich selbst ins Auge! Dann wirst du auch deinem Mitmenschen helfen können, seinen blinden Fleck zu überwinden.
Tiefenpsychologische Betrachtung
1. Physiologischer Ursprung - das Bild hinter dem Bild
Im menschlichen Auge befindet sich an der Stelle, wo der Sehnerv austritt, keine Netzhaut. Dort kann kein Licht aufgenommen werden - das ist der physiologische blinde Fleck. Unser Gehirn ergänzt das fehlende Bildstück automatisch aus dem Kontext der Umgebung. Wir sehen also nicht die Realität vollständig, sondern eine konstruiert ergänzte Wahrnehmung. Schon hier liegt ein tiefenpsychologisch bedeutsamer Vorgang: Das, was wir nicht sehen können, wird unbewusst ergänzt, sodass wir die Lücke nicht bemerken.
2. Tiefenpsychologische Bedeutung - das Unbewusste überdeckt die Lücke
In der Tiefenpsychologie (z. B. nach C. G. Jung) bezeichnet der blinde Fleck die Bereiche der Persönlichkeit, die uns selbst nicht bewusst sind, die wir
nicht wahrnehmen wollen oder können, die aber trotzdem unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen. Typisch für blinde Flecken:
Eigene Schattenanteile: verdrängte oder nicht angenommene Persönlichkeitsaspekte, die wir lieber anderen zuschreiben (Projektion).
Unbewusste Motive und Bedürfnisse, die unser Verhalten steuern, ohne dass wir sie erkennen.
Verzerrte Selbstwahrnehmung: Wir glauben, ein vollständiges Bild von uns selbst zu haben - doch ein Teil fehlt.
So wie beim Auge wird auch hier die Lücke vom psychischen System 'aufgefüllt': Wir erfinden Geschichten, rechtfertigen unser Verhalten, blenden Dinge
aus - um die Illusion eines stimmigen Selbstbildes zu bewahren.
3. Der blinde Fleck und die Projektion
C. G. Jung beschrieb, dass das, was wir nicht in uns selbst erkennen, wir oft auf andere projizieren. Beispiel: Wer seine eigene Aggressivität nicht wahrhaben will, empfindet andere als feindselig. Wer seine eigene Eitelkeit nicht sehen will, kritisiert bei anderen deren Narzissmus. Projektion ist wie das 'Übermalen' des blinden Flecks: Anstatt in uns zu schauen, sehen wir es im Außen.
4. Der blinde Fleck als Tor zur Selbsterkenntnis
Tiefenpsychologisch gesehen ist der blinde Fleck kein Defizit, sondern ein Einladungspunkt zur inneren Arbeit:
Wenn wir uns irritiert, verletzt oder wütend fühlen → könnte das ein Hinweis auf eigene unbewusste Anteile sein.
Spiegelungen in Beziehungen → machen blinde Flecken sichtbar.
Feedback anderer Menschen → öffnet oft die Tür zu diesen verborgenen Bereichen.
Innere Arbeit (z. B. Schattenarbeit, Selbstreflexion, Therapie) → kann den blinden Fleck allmählich ins Bewusstsein heben.
'Der blinde Fleck ist kein Fehler des Sehens, sondern eine Einladung des Unbewussten, tiefer zu schauen, wo das Licht noch nicht hingefallen ist.'
Gottes Wort gibt uns Orientierung
Wir haben diese Bereiche unseres Lebens, die wir nicht sehen, obwohl sie mitten in uns liegen. Es sind die blinden Flecken unseres Herzens. Wie beim Auge, wo an der Stelle des Sehnervs kein Bild entsteht, gibt es auch in unserer Seele Bereiche, die wir nicht wahrnehmen. Und doch tun wir so, als hätten wir ein vollständiges Bild. Unser Gehirn ergänzt, was fehlt, damit wir glauben, wir sähen klar. Ebenso ergänzt unsere Psyche, was wir nicht wahrhaben wollen. Sie überdeckt die Lücke - oft mit Geschichten, Rechtfertigungen oder Schuldzuweisungen an andere.
Jesus spricht davon, wenn er vom Splitter und dem Balken spricht. Er spricht nicht über die Fehler anderer. Er spricht über mich. über das, was ich nicht sehen will: meinen Stolz, meine Angst, meinen Ärger, meine Wunden, meine unerfüllten Sehnsüchte, meinen Eigenwillen. Das sind keine Randzonen. Es sind zentrale Punkte unseres Menschseins - aber sie liegen im Schatten.
Und so geschieht es: Was ich bei mir nicht sehen kann, erkenne ich bei anderen - oft scharf, manchmal gnadenlos. Ich merke den Splitter im Auge des anderen, weil er etwas in mir spiegelt, das ich noch nicht wahrhaben will. Der blinde Fleck ist also nicht einfach ein Mangel, er ist eine Lehrstelle der Gnade. Er lädt mich ein, hinzuschauen, wo ich bisher weggeschaut habe. Nicht mit Gewalt. Nicht mit Selbstverurteilung. Sondern mit dem Blick Jesu - einem Blick der Wahrheit und der Liebe zugleich.
Wenn Christus uns anschaut, dann nicht, um uns bloßzustellen, sondern um das Licht in jene Räume zu bringen, die wir selbst nicht betreten. Wo Licht hineinfällt, da verliert der Schatten seine Macht. Wo ich mich meinen blinden Flecken stelle, da entsteht Freiheit.
Blinde Flecken kann man allein kaum erkennen. Darum braucht es das Gegenüber: Menschen, die uns ehrlich spiegeln. Situationen, die uns irritieren. Momente, in denen wir merken: 'Da ist mehr in mir, als ich dachte.' Und es braucht den Mut, diese Spiegelungen nicht abzuwehren, sondern sie als Einladung Gottes zu verstehen.
Jesus Christus,
du kennst mich besser, als ich mich selbst kenne.
Du siehst, was ich nicht sehen will.
Du schaust mit Liebe in meine blinden Flecken.
Schenke mir Mut, mein Herz zu öffnen,
damit dein Licht die Schatten durchdringt
und ich wahrhaftig werde - vor dir und vor mir selbst.