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Auge und Hand - zwei Versuchungen des Ich
Text: Matthäusevangelium 5, 29-30 - Übersetzung dem griechischen Originaltext nahe
29 Wenn aber dein rechtes Auge dich zur Sünde verführt, reiß es heraus und wirf es von dir! Es ist dir nämlich förderlich, dass eines deiner Glieder zugrundegeht und nicht dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird. 30 Und wenn dich deine rechte Hand zur Sünde verführt, haue sie ab und wirf sie von dir! Es ist dir nämlich förderlich, dass eines deiner Glieder zugrundegeht und nicht dein ganzer Leib in die Hölle hingeht.
Tiefenpsychologische Überlegungen
1. Das 'rechte Auge' - das Auge, das alles durchdringen und beherrschen will
In der biblischen Symbolsprache steht das rechte Auge nicht nur für das Sehen, sondern für die bewusste, gerichtete Aufmerksamkeit, für
das Urteilen, Bewerten und Durchschauen. Tiefenpsychologisch gesehen ist es der Teil unseres Bewusstseins, der:
die Welt kontrollieren und durchschauen möchte,
der entlarvt, bloßstellt und richtet,
der nichts stehen lassen kann, ohne es sofort zu analysieren oder zu bewerten,
der den anderen zum Objekt macht, anstatt ihn sein zu lassen.
Dieses Auge ist nicht 'böse' - es ist notwendig für Erkenntnis und Orientierung. Aber es kann zur Sünde verführen, im
ursprünglichen Sinn des griechischen Wortes hamartia: das Ziel zu verfehlen. Wenn dieser Teil unseres Bewusstseins übermächtig wird, verlieren
wir das staunende, offene, liebende Sehen. Wir sehen nicht mehr das Geheimnis im Anderen, sondern nur noch Kategorien, Fehler, Nutzen. Das 'rechte Auge
herausreißen' bedeutet nicht, blind zu werden, sondern die Herrschaft dieses urteilenden Blicks zu begrenzen. Es heißt, bewusst auf ein Stück
scheinbarer 'Sehfähigkeit' zu verzichten - auf jene Art des Sehens, die uns von der Liebe trennt.
2. Die 'rechte Hand' . der Wille, alles zu machen und zu kontrollieren
Auch die rechte Hand ist ein uraltes Symbol für das aktive, handelnde Bewusstsein. Sie steht für:
das Tun und Eingreifen,
den Drang, Dinge 'in die Hand zu nehmen',
die Überzeugung, auch innerlich 'machen' zu können, was man will.
Diese Seite ist schöpferisch und notwendig - doch auch sie kann zur 'Sünde' führen: Dann nämlich, wenn sie glaubt, alles kontrollieren und
erzwingen zu können, auch seelische Prozesse, Wandlung, Reifung. Dann wird sie zur Hybris - und verschließt uns vor dem, was aus dem Unbewussten,
aus der Tiefe wachsen will. Die rechte Hand 'abhauen' heißt: den Machbarkeitswahn in uns abschneiden. Es ist ein Bild für die Aufgabe des
Ego-Willens, der alles steuern will - zugunsten eines tieferen, empfangenden Handelns, das sich führen lässt.
3. Der Preis des Abschneidens - ein Teil muss 'zugrundegehen'
'Es ist förderlich, dass eines deiner Glieder zugrundegeht ...' - das klingt schmerzhaft. Und das ist es auch: Innere Wandlung ist immer mit einem Sterben verbunden. C. G. Jung sprach vom 'Opfer der Bewusstseinsinhalte', die zu groß oder zu einseitig geworden sind. Nur wenn sie geopfert werden, kann Ganzheit entstehen. Was hier 'zugrundegeht', ist nicht das Auge oder die Hand selbst - sondern ihre Hypertrophie, ihre Übersteigerung. Nicht das Sehen oder Handeln wird vernichtet, sondern jene Form des Sehens und Handelns, die uns vom Eigentlichen trennt.
4. Die 'Hölle' als Zustand der inneren Unverbundenheit
Auch die 'Hölle' ist hier nicht als äußerer Ort zu verstehen, sondern als psychischer Zustand der Abgespaltenheit: Wenn Auge und Hand - Bewusstsein und Wille - sich verselbstständigen, wenn sie sich nicht mehr an das Ganze des Menschen rückbinden, dann wird der Mensch innerlich zerrissen. Er verliert die Verbindung zu seiner Tiefe, zu seiner Seele, zu Gott. Diese innere Entfremdung ist die 'Hölle'.
5. Stirb und werde - der Weg zur Ganzheit
Diese Worte Jesu sind radikal, weil sie eine tiefe seelische Wahrheit berühren: Wandlung ist ohne Verzicht nicht möglich. Nur wenn ein Teil unseres alten Selbst 'stirbt', kann ein neuer Mensch entstehen. Das Auge, das alles besitzen und beherrschen will, muss weichen, damit das Auge, das staunen kann, sieht. Die Hand, die kontrolliert, muss sich zurücknehmen, damit eine Hand, die empfängt, segnet und trägt, wachsen kann. So verstanden, ruft dieser Text nicht zur Selbstverstümmelung auf, sondern zu einer inneren Läuterung. Er spricht von der mutigen Entscheidung, den Schatten der Übermacht des Bewusstseins abzuschneiden, damit die Ganzheit des Menschen geboren werden kann.
'Reiß das Auge heraus' - lass das urteilende Bewusstsein los.
'Hau die Hand ab' - gib den Machbarkeitswahn auf.
Nur wenn wir diese übermächtigen Seiten des Ich begrenzen, kann sich das Ganze entfalten. Nur wenn ein Teil stirbt, kann ein neuer Mensch geboren werden.
Gottes Wort ist Liebesbotschaft an uns
Kaum ein Wort Jesu klingt auf den ersten Blick so grausam, so fremd, so lebensfeindlich wie dieses. Auge ausreißen? Hand abhauen? – Wer wollte das tun? Und doch hat Jesus nie Selbstverstümmelung gemeint. Er spricht hier nicht vom Körper, sondern vom Inneren des Menschen, von unserem Bewusstsein, unserem Wollen, unserer Seele. Diese drastischen Bilder sollen uns wachrütteln. Sie sagen: Es gibt Dinge in dir, die du loslassen, abschneiden, herausreißen musst, wenn du heil werden willst. Nicht, weil sie an sich böse wären – sondern weil sie dich im Übermaß vom Eigentlichen abbringen. 2. Das rechte Auge – das Auge, das alles durchschaut und richtet Das Auge ist unser Tor zur Welt. Mit ihm sehen wir, erkennen wir, urteilen wir. Doch gerade dieses Sehen kann uns „zur Sünde verführen“ – im ursprünglichen Sinn: hamartia, das Ziel verfehlen. Unser rechtes Auge steht für jene Seite in uns, die: alles analysiert, einordnet, bewertet, den anderen durchschaut und festlegt, nichts stehen lassen kann, ohne es zu beurteilen. Wir kennen dieses Auge gut. Es ist das Auge der Kontrolle, der Kritik, der Rechthaberei. Es ist jenes Auge, das nicht mehr staunen kann, sondern nur noch taxiert. Doch wer so sieht, verliert die Tiefe. Er sieht nicht mehr den Menschen, sondern nur noch ein Etikett. Er sieht nicht mehr das Geheimnis, sondern nur noch das, was er kontrollieren kann. Dieses Auge kann uns von der Liebe trennen. Es macht uns kalt und hart, lässt uns über andere richten, statt sie zu verstehen. Und so sagt Jesus: Reiß es heraus. Nicht im wörtlichen Sinn – sondern: Nimm diesem Blick die Macht. Schließe es – und öffne dein anderes Auge: das Auge des Staunens, das schaut, ohne zu urteilen. Das Auge, das nicht besitzen will, sondern empfängt. 3. Die rechte Hand – der Drang, alles zu machen und zu kontrollieren Auch die rechte Hand steht für eine Seite unserer Seele: für das aktive, gestaltende Bewusstsein, für den Willen, für das Tun. Sie greift ein, sie greift zu, sie will gestalten und verändern. Und das ist gut und notwendig. Aber diese Hand kann auch „zur Sünde verführen“ – wenn sie glaubt, alles machen zu können, auch das, was sich nicht machen lässt: inneres Wachstum, Liebe, Wandlung. Dann wird aus schöpferischer Kraft ein gefährlicher Machbarkeitswahn. Dann versucht der Mensch, auch seine Seele zu „bearbeiten“, sie zu optimieren, sie zu kontrollieren. Dann verliert er die Demut, sich führen zu lassen. Auch hier sagt Jesus: Hau sie ab. Das heißt: Lass los. Gib auf, alles erzwingen zu wollen. Gib auf, dein Leben vollständig in der Hand halten zu wollen. Lass Raum für das, was wachsen will, ohne dass du es machst. 4. Abschneiden tut weh – aber es macht lebendig „Es ist besser, dass eines deiner Glieder verloren geht…“ – dieser Satz ist unbequem, aber wahr. Jeder innere Wandlungsprozess ist mit Verlust verbunden. Etwas muss sterben, damit Neues entstehen kann. C. G. Jung nannte das den „Opferprozess“. Ein übermächtig gewordener Teil unseres Bewusstseins muss geopfert werden, damit Ganzheit entstehen kann. Das Auge, das alles kontrollieren will. Die Hand, die alles machen will. Beide sind nicht böse – aber sie dürfen nicht herrschen. So wie ein Baum beschnitten werden muss, damit er Frucht bringt, so müssen auch wir beschneiden, was uns einengt und unfrei macht. Nicht um ärmer zu werden – sondern um freier zu werden. 5. Die Hölle – nicht ein Ort, sondern ein Zustand Wenn Jesus von der „Hölle“ spricht, meint er hier nicht einen Ort nach dem Tod, sondern einen inneren Zustand: die Erfahrung der Entfremdung, der Zerrissenheit, der inneren Abgeschnittenheit von uns selbst und von Gott. Wer von seinem urteilenden Auge beherrscht wird, landet in der Hölle des Zynismus. Wer von seiner machenden Hand beherrscht wird, landet in der Hölle des Getriebenseins. Beide Höllen kennen wir – sie sind real und mitten unter uns. 6. Stirb und werde – der Weg der Wandlung Am Ende führt dieses harte Wort Jesu mitten hinein in das große geistliche Gesetz: „Stirb und werde.“ Was zu stark, zu einseitig, zu dominant geworden ist, muss „sterben“, damit ein neuer, ganzer Mensch geboren werden kann. Das Auge, das alles bloßstellt, soll zum Auge des Staunens werden. Die Hand, die alles kontrollieren will, soll zur Hand des Empfangens, des Segnens werden. Dann geschieht das, was Jesus meint: nicht der ganze Mensch geht verloren, sondern ein Teil, der uns sonst ins Verderben reißen würde. 7. Eine Übung des Alltags Vielleicht ist diese Predigt kein Aufruf zu heldenhaften Taten, sondern eine Einladung zu kleinen, stillen Übungen: Halte einen Moment inne, bevor du urteilst. Lass dein „rechtes Auge“ ruhen. Sieh den Menschen neu – mit dem Blick der Liebe. Halte einen Moment inne, bevor du handelst. Lass deine „rechte Hand“ los. Frag dich: Muss ich das wirklich tun? Oder darf hier etwas von selbst geschehen? Solche kleinen Abschneidungen sind der Anfang großer Wandlung. Schluss Jesu Wort ist hart, weil es ehrlich ist. Es will uns nicht verletzen, sondern befreien. Es lädt uns ein, auf dem Weg zu reifen Menschen Schritte zu tun, die weh tun – aber die uns heilen. „Es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder zugrunde geht…“ – ja, besser, dass ein Teil in uns stirbt, als dass wir ganz in der Hölle der Entfremdung leben. Besser, ein Stück Macht zu verlieren, und dafür das Staunen wiederzufinden. Besser, ein Stück Kontrolle aufzugeben, und dafür die Liebe zu entdecken. So ist das Wort von Auge und Hand kein Ruf zur Selbstverstümmelung – sondern ein Ruf zur inneren Befreiung. Wer diesen Ruf hört und wagt, sich selbst zu beschneiden, der wird erfahren: Aus dem Schmerz wächst neues Leben. Und aus dem Abschneiden wächst Heil.