Das Schlüsselwort

Matthäusevangelium 9, 35-38

Jesus ging an Menschen, die übel dran und mit Sorgen, Kummer und allen möglichen Traurigkeiten, Gebrechen und Krankheiten beladen waren, nicht oberflächlich, routinemäßig, flüchtig vorüber und fertigte sie nicht mit billigen, nichtssagenden, leeren, unpersönlichen, ganz und gar überflüssigen Floskeln ab, wie "Kopf hoch! Wird schon wieder!", "Nur nicht den Kopf hängen lassen! Nur nicht aufgeben!".

Jesus wartete nicht in einem Büro, einer Praxis oder an irgendeinem Stützpunkt, bis Leute zu ihm kamen, sondern ging Menschen nach in ihren Alltag, wo sie lebten und litten, er ging auf sie zu und ließ sich tief berühren von der Not derer, die "müde" und "erschöpft" waren. Im griechischen Urtext bedeuten diese Worte "abgehetzt", "geplagt", "geschunden", "darniederliegend", "hin und her geworfen".

"Er hatte Mitleid mit ihnen", steht im Text. Diese Übersetzung allerdings ist nicht korrekt. Das entsprechende griechische Wort heißt "esplanchnísthe" (griechisch: εσπλαγΧνισθη). In diesem Wort steckt das Hauptwort "splánchnon" und das hat die Bedeutung: die Eingeweide, die inneren Organe, das Herz.

Was hier und an vielen anderen Stellen in den Evangelien irrtümlich mit "Mitleid haben" übersetzt ist, ist auszudrücken mit: jemand nimmt einen anderen wahr, versetzt sich in seine Lage, fühlt sich in seine Gefühle ein und denkt seine Gedanken nach, um ganz tief zu spüren, wie es ihm geht, was in ihm vorgeht, versucht zu verstehen. Das setzt voraus: offene Augen, sich Zeit nehmen für jemanden, aufmerksames, gesammeltes, konzentriertes Zuhören, ganz Ohr und ganz Herz sein, Anteilnehmen, inneres Beteiligtsein.

"Esplanchnísthe" ist das Schlüsselwort für Jesu Wirken, sein heilendes Reden und Tun. Es ist das Kennzeichen seiner Person und die Mitte seiner Gottesverkündigung. Es ist Ausdruck der mütterlichen und väterlichen Liebe Gottes, die Jesus den Menschen brachte. Die Lebenssituation der Menschen ging ihm unter die Haut, fuhr ihm ins Herz, in die Eingeweide. Jesus ging auf Menschen einmalig ein, denn die Sorgen und die Nöte jedes Menschen sind immer einmalig.

Maria Rutherford hat "esplanchnísthe" in das treffende Bild gefasst: "Lass mich in deinen Schuhen gehen, um zu spüren, wo sie dich drücken, obwohl ich eine andere Größe habe und niemals gleich fühle wie du. Ich will es trotzdem versuchen, wenn du es mir zutraust."

So lebte Jesus nachgehende heilende Seelsorge.

Jesus sagt uns: Öffnet eure Augen und eure Herzen! In eurer Umgebung leben so viele, die eure Seelsorge brauchen. Folgt mir nach! Lernt von mir so zu tun, wie ich getan habe!

Seine Einladung ergeht nicht nur an besonders berufene, beauftragte oder geweihte Personen, sondern an alle."