Größe im Reich Gottes

Lukasevangelium 9, 43–50: wortgetreue Übersetzung aus dem griechischen Urtext

43 Gerieten außer sich aber alle über die große Macht Gottes. Alle aber sich wunderten über alles, was er tat, sagte er zu seinen Jüngern: 44 Steckt euch diese Worte in eure Ohren! Denn der Sohn des Menschen wird übergeben werden in Hände Menschen. 45 Sie aber verstanden nicht dieses Wort, und es war verborgen vor ihnen, so dass nicht sie begriffen es, und sie scheuten sich, zu fragen ihn über dieses Wort. 46 Hinein kam aber eine Überlegung in sie, das: sei Größere von ihnen. 47 Aber Jesus, kennend die Überlegung ihres Herzens, genommen habend ein Kind, stellte es neben sich 48 und sagte zu ihnen: Wer aufnimmt dieses Kind in meinem Namen, mich nimmt auf, und wer mich aufnimmt, nimmt auf den gesandt Habenden mich; denn der Kleinere unter allen euch Seiende, der ist groß. 49 Antwortend aber, Johannes sagte: Meister, wir haben gesehen einen in deinem Namen austreibend Dämonen, und wir wollten hindern ihn, weil nicht er folgt zusammen mit uns. 50 Sagte aber zu ihm Jesus: Nicht hindert! Denn wer nicht ist gegen euch, für euch ist.

Johannes und Jakobus, die 'Donnersöhne', erzählen:

Jahrzehnte sind vergangen, seit uns - Johannes und Jakobus - Jesus in seinen Kreis aufgenommen hat. Damals waren wir junge erwachsene Männer. Jetzt sind wir im fortgeschrittenen Alter. Wir sind Brüder. Zebedäus, unser Vater, ist schon lange verstorben. Mit ihm übten wir auf dem See Genezareth das Fischereihandwerk aus.

Es gibt Menschen, die ihr aufbrausendes, ungestümes Temperament kompromisslos für eine Sache einsetzen - und damit manchmal auch übers Ziel hinausschießen. Zu diesen Menschen gehörten wir beide. Von Jesus wurden wir deshalb 'Donnersöhne' genannt.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Als wir einmal zusammen mit Jesus von Galiläa auf dem Weg nach Jerusalem waren, kamen wir durch ein Dorf in Samarien. Kein Dorfbewohner war bereit, uns Nachtquartier zu geben. Denn die Samariter waren auf uns Juden nicht gut zu sprechen, und umgekehrt war es ebenso. In unserer hitzköpfigen Art fragten wir zwei Jesus, ob wir befehlen sollten, dass Feuer vom Himmel falle und die Dorfbewohner vernichte. Jesus wies unser Ansinnen energisch zurück.

Wie viele Väter und Mütter auf der Welt strebten auch unsere Eltern in unserer patriarchalisch ausgerichteten Gesellschaft danach, dass ihre Söhne es zu etwas bringen, im Leben groß herauskommen, Rang und Namen haben und hohe Posten erreichen. Zu jeder Zeit gelten Status und Prestige, Ruhm und Macht, großer Besitz und Reichtum als etwas Großes und absolut Erstrebenswertes.

Gleichsam mit der Muttermilch haben wir die Messiaserwartung unseres Volkes in uns aufgenommen. Der Messias werde wie ein mit unbezwingbarer Macht ausgestatteter Herrscher das unvergängliche messianische Reich des Friedens und der Gerechtigkeit errichten. Das war die landläufige Überzeugung. Wir im Kreis Jesu und viele in unserem Volk glaubten, dass Jesus der Messias sei. Unsere Mutter wandte sich deshalb einmal an Jesus mit der Bitte, er möge uns die höchsten Ränge zukommen lassen, wenn er sein Reich gründe.

Oftmals sprach Jesus zu uns, dass bei Gott andere Werte zählen als in dieser Welt. Aber wir verstanden ihn damals noch nicht. Jesus wählte für sich die Maßstäbe Gottes. Er suchte nicht das Bad in der Menge und die Bühne, um vor den Augen der Menge seine Erfolge zu feiern. Verehrung, Beifall und Jubel, Glanz und Gloria, Titel, Prestige, Ruhm, Macht, Besitz und Reichtum lehnte er für sich völlig ab. Irgendwie waren wir blind, das zu sehen, und waren auf das aus, was in dieser Welt von großer Wichtigkeit und Bedeutung ist.

Genau zu dem Zeitpunkt, als wir und viele andere über die Heilung des epileptischen Buben staunten, kündigte Jesus uns zum wiederholten Mal an, dass er infolge seiner Gottesverkündigung mit der jüdischen Gesetzesreligion und ihren Gesetzeshütern in tödlichen Konflikt geraten werde. Wir nahmen das nicht ernst, denn wir waren noch eingenommen von der gängigen Wunschvorstellung eines Messias mit Größe und Macht nach irdischem Muster. Genau zu diesem Zeitpunkt rivalisierten wir untereinander einmal mehr und waren mit der Frage beschäftigt, wer in unserem Kreis der 'Größte' sei.

Bei unserer Berufung in den Kreis Jesu ließen wir in der Tat nicht alles zurück, ganz sicher nicht unser Machtstreben und unser Heischen nach Titeln, ersten Plätzen und Ämtern. Nicht uneigennützig sind wir Jesus gefolgt, sondern wollten mitnaschen an der Macht des Messias. Kurzum: Wir waren noch weit entfernt von Jesus, dem Menschensohn.

Jesus stellte sich neben ein Kind und sagte sinngemäß zu uns: Ein kleines Kind gilt wenig in dieser Welt, vor Gott aber ist es groß. Wenn ihr werdet wie kleine Kinder, lebt ihr jetzt schon im Reich Gottes. Diese Worte gingen uns bei dem einen Ohr hinein und beim anderen hinaus. Später in den Jahren, als Jesus nicht mehr als Mensch unter uns war, als wir reifer wurden, haben wir uns an seine Worte erinnert, darüber nachgedacht und uns ausgetauscht darüber.

Was ist an einem kleinen Kind, dass es groß ist vor Gott? Diese Frage kam uns oft in den Sinn. Erst spät begannen wir zu begreifen, was uns Jesus damit sagen wollte. Kleine Kinder haben keinen Besitz und keine Reichtümer, keine Macht und keinen Ruhm, keinen Rang, keine Ämter und keine Titel. Dennoch sind sie reich in einem anderen Sinn. Sie brauchen nicht das äußere Dingsda. Glück und Freude sind in ihrem Inneren. Sie leben im Augenblick und im Urvertrauen. Sie kennen nicht die großen Sorgen und Existenzängste. Sie erfahren Freiheit und Unbeschwertheit. Frieden ist in ihrem Herzen. Schaut in Kinderaugen und ihr seht ihre Glückseligkeit, hat uns Jesus gesagt. Kleine Kinder streben nicht nach Wert und Würde von außen. Sie tragen unverlierbaren Wert und unvergängliche Würde von Gott in ihrer Seele.

Spät erkannten wir, dass sich Jesus sein Kindsein behalten hat. Er war glücklich ohne Äußerlichkeiten. Er lebte im Augenblick und war erfüllt von Urvertrauen auf seinen Abba-Gott. Macht euch nicht so viele Sorgen und Ängste um morgen, sagte er uns manchmal, Gott gibt euch täglich, was ihr zum Leben WIRKLICH braucht. Er war frei von Habenmüssen und Machtstreben. Er glaubte daran, dass er sich Wert und Würde, Anerkennung und Image nicht zu erarbeiten und zu verdienen brauchte, sondern dass er von seinem Abba damit von vornherein ausgestattet sei. In Jesus wohnten Freiheit, Friede und Glückseligkeit.

Jesus leitete uns an, zu lernen, wie er lebte. Im Laufe unseres Lebens haben wir von Jesus nach und nach vieles gelernt. Von Jesus lernen geht nicht von einem Tag auf den anderen, sondern braucht Zeit, viel Zeit.

Eines zum Beispiel brauchte auch lange, bis es in unseren Kopf und unser Herz hineinging. Als wir jemanden, der nicht unserem Kreis angehörte, sahen, dass er im Namen Jesu heilende Seelsorge pflege, wollten wir ihn daran hindern. Wir glaubten, wir hätten ein Monopol auf heilende Seelsorge, nur wir wären befugt im Namen Jesu zu 'heilen'. Jesus widersprach uns. Menschen gleich welcher Herkunft, Hautfarbe, Rasse und religiöser Einstellung können heilende Seelsorge in meinem Namen 'lernen' und anwenden, sagte uns Jesus. Und er fügte hinzu, dass viele Namenlose Seelsorge in ihrem Alltag leben, in ihren Familien, ihren Beziehungen, ihren Berufen, in sozialen Einrichtungen usw. usw. Wo immer Menschen andere seelsorglich begleiten, ihnen Zeit schenken und einfühlsam und verstehend zuhören, ihnen zur Seite stehen und Beistand leisten, sie aufrichten, trösten und ermutigen, geschieht dies im Sinne Gottes.