Die Goldene Regel

„Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten.” Diese Worte überliefern uns das Matthäusevangelium in der Bergpredigt Jesu (Mt 7, 12) und das Lukasevangelium in der Feldrede Jesu (Lk 6, 31). Sie sind uns auch als bekanntes Sprichwort geläufig, allerdings negativ formuliert: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füge auch keinem andern zu.”

In ähnlichem Wortlaut wie im Evangelium kommt die Goldene Regel auch in den anderen großen Weltreligionen vor.

Im Konfuzianismus: „Das ist die wahre Liebesregel: Tue dem anderen nichts an, was du nicht willst, was sie dir antun.”

Im Islam: „Keiner unter euch ist gläubig, wenn er für seinen Bruder nicht das wünscht, was er auch für sich selbst wünscht.”

Im Judentum: „Was du selbst für übel hältst, das tue auch deinem Nächsten nicht an. Darin liegt das ganze Gesetz, alles andere ist nur Kommentar.”

Im Hinduismus: „Das ist die Summe deiner Pflicht: tue dem anderen nichts, was dir selbst auch übeltäte.”

Im Buddhismus: „Kränke den anderen nicht durch etwas, was auch dich kränken würde.”

Die Goldene Regel ist in allen großen Religionen enthalten. Deshalb ist sie etwas, was die Religionen miteinander verbinden und Einheit zwischen ihnen stiften kann.

Eine der großen Aufgaben der Religionen sehen wir darin, die ganze Welt dadurch miteinander zu versöhnen, dass die Religionen damit anfangen, das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen. So dienen sie dem Weltfrieden.

Die Buntheit und Vielfalt der verschiedenen Religionen sehen wir nicht als Problem, wohl aber, dass die Religionen einander die Berechtigung und die Wahrheit absprechen und sich gegenseitig bekriegen. Die Goldene Regel muss beispielgebend zuerst bei den Religionen Anwendung finden, indem sie einander so behandeln, wie sie selber behandelt werden möchten.

Die Goldene Regel wird von anderen Religionen in ähnlicher Weise ausgedrückt wie von Jesus und doch auch verschieden. Jesus formuliert positiv: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen!” Es geht Jesus nicht nur darum, anderen das nicht anzutun, was ich selber nicht möchte, sondern Eigeninitiative zu ergreifen und aktiv zu werden, zu überlegen und darauf zu achten, anderen zu tun und zu geben, was ich mir von ihnen erwarte.

Die Goldene Regel richtet sich an Gruppen und Gemeinschaften, an Staaten, Völker und Nationen und jeden und jede Einzelne, auch an mich persönlich.

Welche Voraussetzungen braucht es, damit ich die Goldene Regel umsetzen kann? Zuerst mache ich mir bewusst, dass mir ihre Verwirklichung nur gelingen kann, wenn ich auch mit mir selber gut umgehe und mich liebe. Ich frage mich und spüre in mich hinein: Wie möchte ich, dass andere mit mir umgehen? Und ich fühle mich in Mitmenschen ein, damit ich verstehe, was sie möchten. Ich erwäge in meinem Herzen regelmäßig mein Verhalten gegenüber anderen: Stimmt es mit dem überein, was ich für mich selber möchte?

Ich warte nicht darauf, bis andere die Goldene Regel bei mir anwenden, sondern wende sie selber an und verändere damit die Welt ein Stück ins Positive.

Somit ist die Goldene Regel letztlich nicht moralisches „du sollst” und „du musst”, sondern ihre Umsetzung in die Tat ist ein großer Gewinn. Wo sie praktiziert wird, ist das Reich Gottes schon erfüllt.

Wir wissen, dass wir nicht perfekt sind und die Goldene Regel nur unvollkommen leben. Aber wir lernen dazu und vertrauen darauf, dass wir lernen dürfen. Was wir bis gestern noch nicht gelernt haben und noch nicht konnten, können wir heute neu lernen.