Angstverstummt

Lukasevangelium 11, 14–26: wortgetreue Übersetzung aus dem griechischen Urtext

14 Und er war austreibend einen Dämon, und der war stumm; es geschah aber: Der Dämon ausgefahren war, redete der Stumme. Und es staunten die Leute. 15 Einige aber von ihnen sagten: Durch Beelzebul, den Herrscher der Dämonen, treibt er aus die Dämonen; 16 andere aber, versuchend, ein Zeichen vom Himmel wünschten von ihm. 17 Er aber, kennend ihre Gedanken, sagte zu ihnen: Jedes Reich, mit sich selbst entzweit, verödet, und Haus gegen Haus fällt. 18 Wenn aber auch der Satan mit sich selbst entzweit ist, wie wird bestehen sein Reich? Weil ja ihr sagt, durch Beelzebul austreibe ich die Dämonen. 19 Wenn aber ich durch Beelzebul austreibe die Dämonen, eure Söhne durch wen treiben aus? Deswegen sie eure Richter werden sein. 20 Wenn aber durch Finger Gottes ich austreibe die Dämonen, so ist gekommen zu euch das Reich Gottes. 21 Wenn der Starke, bewaffnet, bewacht seinen Hof, in Frieden sind seine Güter; 22 wenn aber ein Stärkerer als er, über gekommen, besiegt ihn, seine volle Rüstung nimmt er, auf die er vertraute, und seine Beutestücke verteilt er. 23 Der nicht Seiende mit mir gegen mich ist, und der nicht Sammelnde mit mir zerstreut. 24 Wenn der unreine Geist ausgefahren ist von dem Menschen, geht er durch wasserlose Gegenden, suchend eine Ruhestätte und nicht findend; dann sagt er: Ich werde zurückkehren in mein Haus, woher ich ausgegangen bin; 25 und gekommen, findet er gekehrt und geschmückt. 26 Dann geht er hin und nimmt zu sich andere Geister, bösere als er selbst, sieben, und eingezogen, wohnen sie dort, und wird das Letzte jenes Menschen schlimmer als das Erste.

In biblischen Schriften begegnen wir magischem Denken. In diesem Abschnitt des Evangeliums werden böse Geister als Verursacher des Verstummens eines Menschen gesehen.

Die magische Vorstellungswelt ist längst überholt. Heute sagen uns Medizin und Psychologie, dass länger andauernde Sprechhemmungen trotz intakten Sprachvermögens und ohne organischen Defekt psychisch bedingt sind. Es handelt sich um Angststörungen.

Dazu ein Beispiel:

Kinder toben auf dem Pausenhof einer Schule. Jungs werfen sich lauthals Bälle zu, Mädchen haben sich in Kleingruppen zusammengetan und sich offensichtlich viel zu erzählen. Nur die dreizehnjährige Sophie sitzt teilnahmslos auf der Treppe zum Eingang, schaut den Kamerad:innen zu und wartet darauf, dass es wieder zum Unterricht läutet. Sie spricht mit niemandem, und wird auch nicht angesprochen. So ist es Tag für Tag.

Im Unterricht fragt die Lehrerin Sophie, ob sie die Aufgaben verstanden hat. Sophie antwortet nicht. Die Lehrerin startet einen zweiten Versuch und wartet schon leicht ungeduldig auf die Antwort, doch Sophie antwortet wieder nicht. Stattdessen senkt sie den Blick zu Boden. Die Erwartungshaltung der Lehrerin und der inzwischen auch unruhig gewordenen Mitschüler üben auf Sophie enormen Druck aus. Sie hatte sich so fest vorgenommen, zu antworten und es wieder nicht geschafft.

Sophie leidet unter selektivem Mutismus und das schon, soweit sie sich zurückerinnern kann. Wenn Kinder, Jugendliche, Erwachsene in der Lage sind zu sprechen, es aber dauerhaft und wiederkehrend unter bestimmten Bedingungen oder mit bestimmten Personen nicht umsetzen können, spricht man von selektivem Mutismus.

Zuhause ist für Sophie alles ganz einfach. Da plappert sie einfach drauflos, ist laut, spontan und kann sich sogar verbal gegen ihren älteren Bruder durchsetzen. Nur außerhalb ihres vertrauten Umfelds wird sie stumm. Es verschlägt ihr regelrecht die Sprache, wenn sie in Gemeinschaft mehrerer Menschen angesprochen wird. Dabei wünscht sie sich doch nichts sehnlicher als dazuzugehören, mitreden zu können und nicht mehr länger alleine zu sein. Das nimmt sie sich so fest vor und versagt immer wieder aufs Neue, wonach ihr innerer Leidensdruck immer größer wird.

Im Schweigen, das für sie mittlerweile so vertraut geworden ist, findet Sophie eine sinnvolle Form der Bewältigung ihrer diffusen Ängste vor Menschen, die immer zu Stresssituationen führen. Durch ihre Erfahrungen ist sie zur Überzeugung gelangt, dass sie kommunikative Anforderungen nicht bewältigen kann und steht in jeder Situation außerhalb ihres Elternhauses unter ängstlicher Anspannung. Sie war schon als Kleinkind sehr ängstlich und hat sich vor anderen Kindern gefürchtet. (Quelle: Der Guller, Stadtanzeiger Ortenau)

Angstverstummte können geheilt werden. Allerdings nicht durch Dämonenaustreibung.

Wenn bei Verstummten die dahinter liegenden, tiefsitzenden Ängste, Unsicherheiten und ihr mangelndes Selbstvertrauen aufgelöst werden, löst sich ihr Schweigen. Behutsamer, einfühlsamer Umgang mit Angstverstummten ist eine erste, wirksame Vorausssetzung für ihre Heilung. Sich in ihre Lage zu versetzen und sich vorzustellen, wie man sich fühlt, wenn man angesprochen wird und aus Angst nicht antwortet, wenn man immer und immer wieder gefragt wird und auf Grund einer seelischen Barriere immer noch nicht antwortet.

Jesus war ein durch und durch gütiger, menschenfreundlicher, einfühlsamer und verstehender Mensch. Er hat Menschen abgrundtiefes Vertrauen geschenkt. Mit der liebenden Macht Gottes schuf Jesus Räume, die unbedingtes Vertrauen zulassen. In eine solche Sphäre des Selbstvertrauens gelangt ein Mensch, wenn er sich von Gott absolut angenommen weiß. Dann kann er aufhören, seine Umgebung als allmächtig zu betrachten, und kann die Menschenfurcht, die ihn verstummen ließ, überwinden.

Viele Menschen waren Jesus gutgesinnt. Andere waren ihm übel gesinnt. Sie standen seiner Gottesverkündigung feindlich und feindselig gegenüber. Auf alle mögliche und unmögliche Weise versuchten seine Gegner Jesus beim Volk unglaubwürdig zu machen, ließen keine Gelegenheit aus, ihm durch Fallenstellerei zu schaden und wollten ihn lieber gestern als heute aus dem Verkehr ziehen. Hier wird erzählt, dass sie ihm unterstellten, ein Hexer, Satansdiener und Teufelsanbeter zu sein und mit Hilfe des Oberteufels Teufel auszutreiben. Jesus entkräftete ihre Anwürfe mit dem Hinweis, dass jedes in sich gespaltene Reich zusammenbrechen und nicht lange Bestand haben würde.