Ungeteilt und unantastbar

Matthäusevangelium 5, 27–32

Kommentar

Diese Jesusworte sind zu sehen auf dem Hintergrund der Rechte der Frauen zur damaligen Zeit in Israel und den Gott zugeschriebenen, tatsächlich aber von Männern verfassten und ausgelegten Ehe- und Scheidungsgesetzen.

Frauen hatten keine Rechte. Sie waren Eigentum des Mannes und deren Willkür ausgesetzt.

Nur der Mann durfte seiner Frau die Scheidungsurkunde ausstellen, sie ihm nicht. Beinah jeder beliebige Vorwand des Mannes genügte, um sich von seiner Frau scheiden zu lassen, z. B. eine jüngere und schönere Frau oder eine bessere Köchin oder so grotesk das Anbrennen von Speisen. Die verstoßene Frau galt nichts mehr in einer Gesellschaft, in der der Mann den Lebensunterhalt bestritt. Sie war mittellos, gesellschaftlich wie lebendig tot, und dazu verurteilt, mit Schimpf und Schande zu ihren Eltern zurückzukehren oder in Armut zu leben.

Wenn jemand beim Ehebruch erwischt wurde, war die Frau zu Tode zu steinigen.

Jesus schützte die Frauen und ihre Menschenwürde, die ungeteilt und unantastbar ist. Was durch die Brille von Gesetzesparagrafen angeschaut wurde, betrachtete Jesus mit Augen der Liebe.

Wer eine Frau oder einen Mann - egal ob in oder außerhalb der Ehe -, ein Mädchen oder einen Buben als Ding, Objekt, Sache, Spielzeug, Ware, Gebrauchsgegenstand, Lust- oder Sexualobjekt sieht, nimmt ihr/ihm ihre/seine Würde, die sie/er von Gott erhalten hat, und setzt sich damit in Widerspruch zur Liebe. Wer eine Frau oder einen Mann - egal ob in oder außerhalb der Ehe -, ein Mädchen oder einen Buben zu seinem/ihrem Besitz und Eigentum macht, nimmt ihr/ihm seine Eigenständigkeit, Freiheit, Selbstbestimmung und widerspricht damit der Liebe. Denn der Mensch gehört niemals einem anderen Menschen, sondern ausschließlich sich selbst und Gott.

Immer weist uns Jesus entschieden, nachdrücklich und unmissverständlich - manchmal sehr provokant - darauf hin, dass das Fehlen der Liebe Schaden, Verlust an Leben, Unheil, Unglück, Zerstörung, "Tod" für uns Menschen bedeutet.

Auch der Einschub, in dem Jesus vom Ausreißen des rechten Auges und Abhauen der rechten Hand spricht, ist pure Provokation. Jesus gibt uns damit keinesfalls eine Anweisung zur Selbstverstümmelung. Wenn uns etwas zum Fehlen der Liebe, zur Trennung von der Liebe verleitet und verführt, wenn die Liebe auf dem Spiel steht, sagt uns Jesus, dann wird das für uns selbst und für andere zum Stolperstein, zur verhängnisvollen Verstrickung, zur Falle für unser Leben. Denn Leben ohne Liebe schafft nun einmal Unglück und Unheil.

Der Mönch Anselm Grün schreibt dazu in seinem Buch "Jesus - Lehrer des Heils. Das Evangelium des MATTHÄUS": "Das rechte Auge ist das, was alles beurteilt und bewertet, das alles haben und durchdringen will, das alles bloßstellt und veröffentlicht. Die rechte Hand ist die, die alles in die Hand nimmt, die alles "machen" möchte, die glaubt, auch innerlich alles machen zu können, was sie will. Diese bewusste Seite muss zurückgeschnitten werden, damit die linke, die unbewusste Seite zu ihrem Recht findet. Das linke Auge ist das Auge, das noch zu staunen vermag, das schaut, ohne zu bewerten, das eins wird mit dem Geschauten. Die linke Hand ist die Hand, die empfängt, die Beziehung schafft. Wer einseitig nur aus seiner bewussten Seite heraus lebt, gerät schon jetzt in die Hölle seiner unbewussten Bedürfnisse und Kräfte, die ihn zerfleischen."

Die gesegnete Stadt

In meiner Jugend wurde mir erzählt, dass in einer bestimmten Stadt jeder gemäß den Schriften lebte. Und ich sagte: "Ich werde nach dieser Stadt und ihrer Gesegnetheit suchen." Und es war weit. Und ich machte große Vorbereitungen für meine Reise. Und nach vierzig Tagen erblickte ich die Stadt und am einundvierzigsten betrat ich sie.

Und siehe da! In der ganzen Gemeinschaft der Bewohner hatte jeder nur ein einziges Auge und nur eine Hand. Und ich war erstaunt und sagte mir: "Sollten die Bewohner dieser ach so heiligen Stadt jeder nur ein Auge und eine Hand haben?" Dann sah ich, dass auch sie erstaunt waren, denn sie sahen voller Bewunderung auf meine zwei Hände und zwei Augen. Und als sie untereinander sprachen, befragte ich sie und sagte: "Ist dies wirklich die gesegnete Stadt, wo jeder nach den Schriften lebt?" Und sie sagten: "Ja, dies ist diese Stadt." "Und was," sagte ich, "ist über euch gekommen und wo sind eure rechten Augen und eure rechten Hände?" Und alle waren bewegt. Und sie sagten: "Komm und sieh."

Und sie brachten mich zum Tempel in der Mitte der Stadt, und im Tempel sah ich einen Haufen von Händen und Augen. Alle verwesend. Da sagte ich: "Ach Weh! Welcher Eroberer hat euch diese Grausamkeit angetan?" Und da ging ein Geraune unter ihnen los. Und einer ihrer Ältesten kam nach vorne und sagte: "Dies ist unser eigenes Tun. Gott hat uns zu Eroberern über das Böse gemacht, das in uns war." Und er führte mich zu einem hohen Altar und alle Bürger folgten nach. Und er zeigte mir über dem Altar eine eingravierte Schrift, und ich las: Wenn Dein rechtes Auge dich zur Sünde verleitet, reiße es heraus und werfe es von dir; denn für dich ist es besser, wenn eines deiner Gliedmaßen abstirbt und nicht dein ganzer Körper in die Hölle geworfen wird. Und wenn deine rechte Hand dich zur Sünde verleitet, schneide sie ab und werfe sie von dir; denn für dich ist es besser, wenn eines deiner Gliedmaßen abstirbt und nicht dein ganzer Körper in die Hölle geworfen wird."

Da verstand ich. Und ich wandte mich um zu all den Menschen und rief: "Hat nicht ein Mann und nicht eine Frau unter euch zwei Augen oder zwei Hände?" Und sie antworteten mir und sagten: "Nein, nicht einer. Niemand hier ist vollständig, außer denen, die noch zu jung sind, die Schriften zu lesen und ihre Gebote zu verstehen."

Und als wir aus dem Tempel kamen, verließ ich direkt diese gesegnete Stadt; denn ich war nicht zu jung, und ich konnte die Schriften lesen.

Khalil Gibran, libanesisch-US-amerikanischer Maler, Philosoph und Dichter