Reich Gottes leben lernen ist Liebe leben lernen

Matthäusevangelium 25, 31-46

Eine Religionslehrerin erzählte ihren Schülerinnen und Schülern folgende Geschichte:

In einer Familie waren viele Kinder. Ihre Eltern vertrauten ihnen bei manchen Gelegenheiten an, dass sie sich jedes Kind von Herzen gewünscht und jedes mit großer Freude erwartet haben. Oft sagten sie ihren Kindern, wie glücklich sie über jedes Kind sind und wie lieb sie jedes haben. Sie waren bestrebt, ihnen eine schöne Kindheit und Jugendzeit mit viel familiärer Wärme zu ermöglichen und kein Kind zu bevorzugen. Schimpfen und maßregeln, anbrüllen und erniedrigen, drohen, strafen und schlagen - gehörte nicht zu ihren Erziehungsmitteln. Von klein auf achteten sie die Würde ihrer Kinder und begegneten ihnen mit großer Wertschätzung. Sie legten alles darauf an, ihre Kinder zu selbständigen Menschen zu begleiten. Jedem verschafften sie die Voraussetzungen für eine gute Ausbildung. Als die Kinder erwachsen waren und nicht mehr daheim wohnten, pflegten die Eltern weiterhin guten Kontakt mit ihnen. Nach Jahren kam die Zeit, da die Eltern ihr Vermögen ihren Kindern als Erbe übergaben. An einem bestimmten Tag luden sie alle Kinder ins Elternhaus ein. Sie sagten zu den einen: „Ihr seid tüchtige und anständige Menschen geworden. Ihr bereitet uns so viel Freude. Wir wollen euch unseren Besitz zu gleichen Teilen vererben. Ihr seid auch in Zukunft immer herzlich willkommen bei uns.” Zu den anderen sagten sie: „Ihr habt es zu nichts gebracht. Nur Kummer und Sorgen haben wir mit euch. Ihr bekommt den gesetzlichen Pflichtanteil unseres Eigentums und keinen Cent mehr. Verschwindet für immer aus unseren Augen. Wir wollen nichts mehr mit euch zu tun haben.”

Als die Lehrerin diese Geschichte beendet hatte, fragte sie die Schülerinnen und Schüler: „Könnt ihr euch vorstellen, dass diese Eltern so gehandelt haben?” „Nein, das glauben wir nicht”, sagten sie, „sie waren doch immer gut zu ihren Kindern, wieso sollten sie sich zu einem Teil ihrer Kinder auf einmal so herzlos verhalten haben!?”

Ebenso wenig, wie die Schülerinnen und Schüler sich vorstellen konnten, dass diese Eltern sich ihren Kindern gegenüber so verhalten haben, können wir uns vorstellen, dass Jesus, der sich jedem Menschen bis zum Äußersten hingibt, sich schlussendlich auf den Richterstuhl setzt und zu einem Teil der Menschen sagt: „Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist!” Nicht Jesus, sondern von Menschen auf Jesus und damit auf Gott gespiegelte menschlich gnadenlose Abrechnungs- und Vergeltungssucht bringt solche Worte hervor.

Jesus verkündet und lehrt das Reich Gottes und die Wertmaßstäbe des Reiches Gottes. Er zeigt und führt uns den Weg zum Reich Gottes. Reich Gottes ist der Zustand, nach dem sich jeder Mensch zutiefst sehnt, der Zustand der Ganzheit, der Lebensfülle, der Glückseligkeit.

Worauf es im Reich Gottes ankommt, das sagt uns Jesus in seiner Botschaft, auch in diesem Evangelium. Der ranghöchste Wert im Reich Gottes ist die wahre Liebe. Sie ist mit dem Reich Gottes wesensgleich. Sie ist der Weg zum Reich Gottes. Wo wahre Liebe gelebt und geschenkt wird, ist es schön und gut, da ist das Reich Gottes jetzt schon erfahrbare Wirklichkeit. Wenn die Liebe einmal alles in allem ist, wenn sie einmal überall das Leben bestimmt, dann ist das Reich Gottes vollendet.

Reich Gottes lernen ist gleichbedeutend mit Lieben lernen. Liebe ist wie alles andere ein Lern- und Reifungsprozess, um den kein Mensch herumkommt. Gott lässt uns die Zeit dazu. Er verliert nie die Geduld mit uns und setzt uns nicht unter Druck. Jeden Tag auf dem Weg zum Reich Gottes ein Stück dazulernen, dazu lädt uns Jesus ein.