Leerwerden und Annehmen der eigenen Schatten

Matthäusevangelium 4, 1–11

Kommentar

Leerwerden

Jesus hat Gott und sein Wort nicht kennengelernt durch jahrelange Kopfarbeit, durch Nachdenken und Überlegen, durch vielfältige theologische Studien, sondern durch Erfahren.

Die ersten Jahre seines Lebens wurde er mit der jüdischen Religion bekannt, mit ihren Vorstellungen von Gott, mit ihren Traditionen, Lehren, Gesetzen, Geboten und Ritualen.

Dann ging Jesus in die "Wüste". "Wüste", das war für ihn Metanoia, Umkehr, Neuorientierung, nocheinmal Neuanfang mit Gott. Dies geschah in mystischer Versenkung, in völligem Leerwerden von der Außenwelt, leer werden von seinen Gedanken und Gefühlen, von seinen Wünschen, Trieben und Begierden, von seinen Plänen und seinem eigenen Willen, von seiner bisherigen Religion und seinen überkommenen Gottesvorstellungen, von seinem eigenen Selbst. Ganz leer!

In der Leere enthüllte sich ihm sein wahres Selbst und somit auch Gott. Er hat Gott erfahren als unbedingt Liebenden, unendlich Gütigen, unbegrenzt Barmherzigen, bedingunglos Vergebenden, als überströmende Gnade, überfließende Freude, unermesslichen Frieden.

In der Leere wurden ihm Gottes Worte als reine Freudenbotschaft, Liebesbotschaft, Trostbotschaft, Hoffnungsbotschaft, Friedensbotschaft offenbar.

In der Leere wurde ihm sein weiterer Weg klar, seine Sendung durch Gott, seine göttliche Aufgabe. Deutlich wurde ihm erkennbar, dass er zu den Menschen gehen, ihnen Gottes Liebesbotschaft bringen und sie durch sein Wirken heilen muss, das sich in tausenden Gesichtern zeigt.

Von der "Wüste" kam Jesus zurück in den Alltag und lebte und wirkte nun mit der vollen Kraft des Gottesgeistes.

Annehmen der eigenen Schatten

Macht und Reichtum, Glanz und Herrlichkeit, Ruhm und Ansehen, Größe und Bewunderung haben für uns etwas Reizvolles, Anziehendes, Verlockendes an sich. Das Verlangen und das Streben danach gehören zu uns, sind Teile von uns. Alles in uns ist gut. Alles in uns darf sein. Alles in uns hat Sinn. Wir tun gut daran, alles, was zu uns gehört, auch unsere dunklen Schatten in uns, nicht von uns abzuspalten, sondern als Teile von uns zu betrachten, sie nicht zu verdrängen, zu bekämpfen oder auszurotten, sondern sie anzunehmen und in das Ganze des Lebens einzufügen. Hinter unseren dunklen Schatten verbergen sich nämlich Schätze. Diese Schätze gilt es aufzuspüren, zu entdecken und zu erkennen, zu heben und für uns nützlich und fruchtbar zu machen. Dann werden unsere dunklen Schatten allem dienen, was wir tun. Wenn wir unsere dunklen Schatten aber als unsere Feinde sehen und bekriegen, dann werden sie nur noch stärker und beginnen uns zu beherrschen und uns in ihren Bann zu ziehen. Schließlich wirken sie sich verheerend auf uns aus. Sie werden übermächtig, blockieren uns, unser Reden und Handeln und unser Leben als Ganzes und unser Zusammenleben mit den anderen. Sie nehmen uns gefangen und rauben uns unsere Freiheit. Wenn wir unsere Schatten aber annehmen, dann fließen sie in unser Leben, in unsere Arbeit, in unsere Beziehungen, in unseren Leib und in unsere Seele ein. Sie werden Teil unseres Ganzen, und wir werden ein Stück weit ganz. Eins sein mit uns selber, innere Harmonie und innerer Friede stellen sich in uns ein und in der Folge Einheit, Frieden und Harmonie nach außen.

Jesus ist dabei unser bester Lehrmeister. Auch Jesus war nicht frei von dunklen Schatten. Auch er spürte wie wir die Verlockung und Anziehungskraft weltlicher Macht und irdischen Glanzes. Auch er kannte wie wir das Verlangen und das Streben nach Ruhm und Ansehen, nach Größe und Bewunderung. Das Evangelium berichtet uns darüber.

Mein Schatten
Mein Schatten

In der Kinderbibel von Werner Laubi mit Illustrationen von Annegert Fuchshuber befindet sich bei der Erzählung über die Versuchung Jesu durch den Teufel ein vielsagendes Bild. Ganz nahe hinter Jesus steht Kopf an Kopf eine dunkle Gestalt. Ihre Gesichter berühren sich. Die dunkle Gestalt sieht genauso aus wie Jesus. Es handelt sich offensichtlich nicht um jemand Fremden. Diese Gestalt ist Teil von ihm. Diese Schattengestalt lockt ihn mit vergänglichen Werten wie der weltlichen Macht und dem irdischen Glanz. Jesus stößt seine Schattengestalt nicht von sich weg, sondern gliedert sie ein in das große Ganze seiner Person, seines Menschseins, seines Lebens. Dadurch ist Jesus der, der er ist: vollendete Ganzheit.

Weil Jesus selber ganz ist, ganz eins mit sich, ganz in Frieden und Harmonie mit sich selbst, kann er mit Gott, mit den Menschen und Geschöpfen in vollendeter Harmonie sein. Alles in ihm ist auf Gott und auf alle Menschen und Geschöpfe bezogen. Jesus grenzt und schließt niemanden aus seiner Gemeinschaft aus. Alle dürfen dabei sein. Alle gehören zum Reich Gottes. Alle haben Platz darin. Die Fähigkeiten und Eigenheiten jedes einzelnen sind wertvolle Bausteine der Gemeinschaft in Jesus. Sie passen gut in das Ganze. Denn sein Reich ist blühende und bunte Vielfalt.