Kommentar zu Johannes 1, 1-18

Das Johannesevangelium beginnt nicht mit der Geburt, Kindheit oder Taufe Jesu, sondern mit einem tiefgründigen Prolog in der Form eines Liedes (Joh 1, 1-18). Der Prolog tritt also an die Stelle der Abstammungslisten und Geburtsgeschichten im Lukas- und Matthäusevangelium. Er nimmt wie in einer Ouvertüre die Themen vorweg, die das ganze Evangelium dann ausführt. "Prolog" kommt vom griechischen "prólogos" und bedeutet: Eingangsrede, vorbereitender Teil des antiken Dramas, Vorrede, Vorwort, Vorspiel.

Der Johannesprolog ist einer der wenigen uns überlieferten Hymnen der Urkirche. Er ist ein urchristliches Lied auf den "Logos" (= Christus). Griechisch: lógos, deutsch: das Wort, die Rede, das Gespräch, die Erzählung, die Lehre, der Ausspruch, das Sprichwort, der vernänftige Grund, der Sinn.

Andere urchristliche Hymnen finden wir in Phil 2, 6 - 11, Kol 1, 15 - 20, 1 Tim 3, 16. Die Christushymnen der Urkirche sind aus Bekenntnisformeln (= Kurzformeln des Glaubens) entstanden. Sie sind die verdichtete Kurzfassung der tiefer erfassten christlichen Frohbotschaft.

Der Johannesprolog ist der schönste christliche Hymnus auf die Menschwerdung Gottes, den wir kennen.

Das Logos-Lied hat vier Strophen: Verse 1-5, Verse 9-11, Vers 14, Vers 16. Die Strophen sind durch vier Prosazusätze erweitert, die den Rhythmus des Liedes unterbrechen: Verse 6-8, Verse 12-13, Vers 15, Verse 17-18.

1. Liedstrophe: Joh 1, 1-5

Im Anfang war das Wort
und das Wort war bei Gott
und das Wort war Gott.
Dieses war im Anfang bei Gott.
Alles ist durch das Wort geworden
und ohne es wurde nichts,
was geworden ist.
In ihm war Leben
und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht leuchtet in der Finsternis
und die Finsternis hat es nicht erfasst.

1. Prosazusatz: Joh 1, 6-8

Ein Mensch trat auf, von Gott gesandt; sein Name war Johannes. Er kam als Zeuge, um Zeugnis abzulegen für das Licht, damit alle durch ihn zum Glauben kommen. Er war nicht selbst das Licht, er sollte nur Zeugnis ablegen für das Licht.

2. Liedstrophe: Joh 1, 9-11

Das wahre Licht,
das jeden Menschen erleuchtet,
kam in die Welt.
Er war in der Welt
und die Welt ist durch ihn geworden,
aber die Welt erkannte ihn nicht.
Er kam in sein Eigentum,
aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.

2. Prosazusatz: Joh 1, 12-13

Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.

3. Liedstrophe: Joh 1, 14

Und das Wort ist Fleisch geworden
und hat unter uns gewohnt
und wir haben seine Herrlichkeit geschaut,
die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater,
voll Gnade und Wahrheit.

3. Prosazusatz: Joh 1, 15

Johannes legt Zeugnis für ihn ab und ruft: Dieser war es, über den ich gesagt habe: Er, der nach mir kommt, ist mir voraus, weil er vor mir war.

4. Liedstrophe: Joh 1, 16

Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen,
Gnade über Gnade.

4. Prosazusatz: Joh 1, 17-18

Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit kamen durch Jesus Christus. Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht.

Der Johannesprolog stellt durch seine ersten beiden Worte einen Bezug zum Schöpfungsbericht im 1. Buch Mose her. Das Alte Testament beginnt mit den Worten: "Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde" (Gen 1, 1). Die alttestamentliche Überzeugung von einem Beginn der Welt, wovon uns die Schöpfungsgeschichten in bildlicher Weise erzählen, wird vom Neuen Testament bestätigt.

Das Logos-Lied sagt: Als Gott den Anfang der Schöpfung und damit den Anfang der Zeit setzte, da war bereits das WORT (griechisch: lógos). Das WORT ist also nicht geschaffen, ohne zeitlichen Anfang, und es gibt keinen anderen "Ort, wo es ist, als bei Gott.

Sind das nun zwei Götter: "Gott" und der "Logos"? Für einen gläubigen Juden, dessen Religion sich unter Gottes Führung zum Ein-Gott-Glauben durchgerungen hatte und sich dadurch grundsätzlich von anderen Religionen (z.B. von der Vielgötter-Religion der alten Ägypter, Griechen und Römer) unterschied, war das ein unerträglicher Gedanke. Die Urkirche verstand sich als Erfüllung der alttestamentlichen Religion und nicht als Abfall von ihr. Wenn das Logos-Lied darauf besteht, dass das WORT Gott ist, dann muss der Christ diesen Satz als christliche Botschaft verstehen lernen: nämlich dass in Gott nicht "Einsamkeit" ist, sondern Beziehung, Gemeinschaft, Dialog, Liebe, dass das WORT also bei Gott ist von Ewigkeit her, nicht ein zweiter Gott, sondern die zweite "Person" in Gott, wie die christliche Theologie es später ausgedrückt hat.

"Wort" besagt nach unserem Verständnis zuerst die laut gewordene Äußerung eines geistigen Begriffes, einer Erkenntnis, einer innerlich erfassten und gewussten Wirklichkeit.

Wortfähigkeit setzt voraus, dass jemand Bewusstsein von sich selber hat, dass er sich selbst aussagen kann, dass er seine Aussage, sein Wort sich selber gegenüberstellen kann: dass er sich selber ansprechen kann und dass er sich selber liebend bejahen kann.

Diese Aussagbarkeit ist in Gott im höchsten Maß verwirklicht, dass der eine Gott der sich in seinem WORT aussagende und in seinem GEIST liebend bejahende ist. Die christliche Theologie bezeichnet das mit Dreieinheit Gottes.

Wenn Gott über diese innergöttliche Selbstaussage und Liebe hinaus sich auch in seine Schöpfung hinein aussagt, um sich dieser mitzuteilen, dann konnte die Schöpfung und jegliche weitere Offenbarung nur geschehen im WORT.

Im Schöpfungswort des Alten Testamentes kommt zum Ausdruck: Gott spricht und es geschieht. Was liegt da näher, als den das WORT schlechthin zu nennen, durch den alles geschaffen ist: JESUS CHRISTUS.

Das Alte Testament kannte nicht nur das Schöpfungswort, sondern auch das Offenbarungswort, das Wort Gottes an das auserwählte Volk, das Wort Gottes im mosaischen Gesetz, das Wort Gottes durch den Mund und die Schriften der Propheten. Alle diese "Worte Gottes" bereiteten auf die Offenbarung Gottes vor, auf die hin und von der her alle andere Offenbarung lebt, "auf das letzte Wort Gottes an uns": auf JESUS DEN CHRISTUS.