Entstellte Religion

Matthäusevangelium 12, 38–50

Jesus soll sich vor ihnen ausweisen mit einem "Wunder", das die Naturgesetze durchbricht. Er soll etwas Spektakuläres machen, das es noch nie gab, das sie noch nie gesehen haben. Dann würden sie ihm glauben, sagen sie.

Das lässt uns an Menschen denken, die an "Erscheinungsorte" pilgern, womöglich mit dem insgeheimen Wunsch, jemanden aus der jenseitigen Welt zu sehen und zu hören, um dadurch in ihrer Frömmigkeit bestätigt und gestärkt zu werden.

Wer etwas Außergewöhnliches braucht, etwas Aufsehenerregendes, um an Gott glauben oder fester an ihn glauben zu können, der sieht nur oberflächlich, sein Sehen geht nicht in die Tiefe. Denn in jedem Augenblick geschehen im Alltag tausend Wunder. Wir nennen nur ein paar Beispiele: Die Abläufe, die in unserem Körper, diesem großartigen Organismus, ununterbrochen vor sich gehen, die unzähligen kleinen Entwicklungsschritte, wenn neues Leben entsteht, die Schönheit einer blühenden Blume, eines herbstlichen Waldes, eines stillen Bergsees, eines Sonnenaufgangs oder -untergangs. Wer gerät da nicht in Staunen über so viel von Gottes Weisheit geschaffene Herrlichkeit, wer braucht da noch Durchbrechungen der Naturgesetze?!

Die "Gegner" Jesu haben laufend beobachten können, wie Jesus mit der Macht der Liebe spricht und wirkt, wie durch ihn "Blinde sehend", "Lahme gehend", "Taube hörend", "Stumme redend", "Aussätzige rein", "Tote lebendig" werden. Diese Wunder der Liebe, der Menschlichkeit, der Zärtlichkeit, der Güte, der Barmherzigkeit, der Vergebung, des Friedens, mit denen er tagtäglich Menschen aufgerichtet, gestärkt, Heil und Heilung gebracht hat, haben ihnen nicht gereicht, um in Jesus Gott selbst redend und wirkend zu erfahren.

Wer von Gott 'Wunder' verlangt, stellt ihn auf die Probe, macht ihn zu einem Gegenstand und wird ihn niemals finden. Gott lässt sich erfahren in der Menschlichkeit zwischen Menschen.

Niemals will Jesus, dass wir von ihm Spektakel erwarten. Was er will, ist, dass wir von ihm Menschlichkeit und Barmherzigkeit lernen und sie in unserem Alltag vollziehen.

Jesus spricht im Bild von einem unreinen Geist, der einen Menschen verlässt und später in ihn zurückkehrt, ein Zerrbild von Religion an, das zu seiner Zeit verbreitet war und bis in unsere Zeit besteht. Edward A. Murphy drückt diese Religionsverfälschung in dem Satz aus: "Alles, was Spaß macht, ist entweder verboten, unmoralisch oder macht dick."

Diese Art von Religion stellt rundherum Verbotsschilder auf, die den Menschen am Gängelband halten, bevormunden, beherrschen, fremd bestimmen. Für Selbstbestimmung ist da kein Platz. Diese Religion schreibt vor: Du musst alles meiden, was Lust und Sinnenfreude verschafft, du musst deine Triebe und Leidenschaften niederhalten, bekämpfen, abtöten.

Wie viele Menschen wurden von dieser Religion um ihre Lebensfreude gebracht, standen in einem fort unter dem schrecklichen Druck zu sündigen und wurden krank?!

Jesus hat seinen Abba-Gott verkündet, der das Glück und die Freude der Menschen will. Alles, was im Menschen ist, ist gut. Denn es ist Gottes wunderbare Schöpfung. Nichts braucht der Mensch von sich abzuspalten und zu verdrängen, nichts an sich zu bekriegen, im Gegenteil: es ist gut für den Menschen sich über alles, was zu ihm gehört, zu freuen, es zu begrüßen, anzunehmen, zu bejahen und zu lieben.

Mit den Worten "Wer den Willen meines himmlischen Vaters tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter", deutet Jesus eine weitere mögliche Entstellung von Religion an. Sie besteht darin, dass Menschen die Wertvorstellungen, Verhaltensweisen, Erziehungsmaßnahmen von Vater und Mutter, beziehungsweise von Menschen, die sich an die Stelle von Mutter oder Vater setzen, auf Gott übertragen.

Wie viele Menschen wurden durch diese Gott entstellenden Projektionen ihr Leben lang verformt, verbogen, verunstaltet, verstümmelt, übel zugerichtet?!

Jesus sagte an der Schwelle zum Erwachsenwerden, als er mit seinen Eltern in Jerusalem war, und sie ihn verzweifelt gesucht und schließlich im Tempel gefunden hatten sinngemäß: Wisst ihr denn nicht, dass ich meinem himmlischen Abba folgen muss?!

Damit weist Jesus auf die Notwendigkeit hin, sich von irdischen Bindungen und Abhängigkeiten zu lösen und aufmerksam auf das eigene Herz zu hören, in dem Gott zu jedem Menschen "spricht", und ihm zu folgen.