Kommentar zu Matthäus 21, 1-11

Dieses Gleichnis ist in der Fassung, die das Matthäus-Evangelium überliefert, höchstwahrscheinlich eine Umformung des ursprünglichen Gleichnisses Jesu. Die Umformung wurde von der Urkirche vorgenommen.

In diesem Gleichnis drückt die erste Christenheit, die sich lange vor der Zeit der Abfassung des Matthäus-Evangeliums (80-90 n. Chr.) vom religiösen Judentum abgegrenzt und getrennt hatte, ihr Glaubensbewusstsein aus. Sie beanspruchte für sich, das 'neue Israel', das neue Volk Gottes zu sein, das Gott die erwarteten Früchte abliefern wird.

Für die Deutung der Gleichnisse Jesu gilt der Grundsatz, dass jedes Gleichnis nur einen springenden Punkt, nur eine Sinnspitze hat, die herauszufinden ist. Die Einzelheiten des Gleichnisses (= die einzelnen Bilder) sind nicht bedeutend. Sonst würde man das Gleichnis wie eine Allegorie behandeln. In der Allegorie (von griechisch "allegoré-in" = "etwas anders ausdrücken") wird jemand oder etwas als Bild bzw. als Symbol für jemand anderen oder etwas anderes eingesetzt: z. B. der Herr des Weinbergs als Bild für Gott.

Das Gleichnis von den Weinbergpächtern, die dem Weinbergbesitzer die Pacht verweigerten, ist allegorisch zu deuten. Alle Einzelheiten der Erzählung sind auf Personen und Gegebenheiten zu übertragen: Der Herr des Weinbergs ist Gott. Die Pächter sind die religiösen Führer des Volkes Israel (also die Hohenpriester und Schriftgelehrten). Die Knechte, die der Herr des Weinbergs aussendet, um die Pacht einzufordern, sind die alttestamentlichen Propheten. Sie haben häufig ein ähnliches Schicksal erlitten wie die Knechte im Gleichnis. Der Sohn des Weinbergbesitzers und Erbe des Weinbergs, der von den Pächtern umgebracht wird, ist Jesus Christus.

Die Hörer, an die Jesus dieses Gleichnis gerichtet hat, waren die Hohenpriester und Schriftgelehrten, also die religiösen Führer des jüdischen Volkes.

Wahrscheinlich handelte es sich um einen reichen Großgrundbesitzer, der im Ausland lebte.

Die Schilderung, wie der Hausherr seinen Weinberg sorgfältig anlegte, stammt aus dem "Weinberglied" im Buch des Propheten Jesaja (Jes 5, 1-7).

Der Zaun bestand aus einer dichten Dornenhecke und diente zum Schutz vor Wild und Dieben. Die Kelter ermöglichte das Auspressen der reifen Früchte bereits am Ort. Sie bestand aus zwei Trögen. Diese waren entweder ausgehöhlte Steine oder wurden aus Ziegelsteinen angefertigt. Der eine Trog stand etwas höher und war mit dem anderen durch eine Rinne verbunden. Im höheren Trog wurden die Trauben gekeltert. Der Traubensaft lief dann in den unteren Trog. Keltern kommt vom lateinischen Wort "calcáre" und heißt übersetzt "mit den Füßen treten".

Der Turm war einerseits Wachtturm gegen Eindringlinge und Räuber und andererseits Unterkunft für die Pächter während der Erntezeit.

Damals gab es in Palästina einige reiche Großgrundbesitzer, die ihren Besitz an Kleinpächter verpachteten. Von einem solchen wird hier erzählt. Es war nicht unüblich, dass sich Großgrundbesitzer außer Landes aufhielten. Sie waren lediglich daran interessiert, dass die Pacht rechtzeitig bei ihnen abgeliefert wurde. Die Pacht konnte als festgesetzter Geldbetrag oder als bestimmte Menge Früchte oder vereinbarter Teil der Früchte erstattet werden.

Die Stimmung unter den Kleinpächtern gegen die im Ausland lebenden reichen Großgrundbesitzer war oft sehr gereizt und entlud sich manchmal in Wut und offenem Aufstand gegen sie.

In menschlich unbegreiflicher Geduld schickte der Besitzer des Weinbergs nach der Misshandlung und Ermordung der Knechte seinen Sohn. Das macht deutlich, dass mit dem Besitzer des Weinbergs Gott gemeint ist. Kaum ein Mensch würde so handeln wie er.

Das Hinauswerfen des Sohnes aus dem Weinberg und seine Ermordung außerhalb des Weinberges ist eine bildhafte Anspielung auf die Kreuzigung Jesu außerhalb der Stadtmauern von Jerusalem.

Rechtlich war es möglich, dass herrenloses Gut von jedermann in Besitz genommen werden konnte. Das war die eiskalte Überlegung der Pächter im Gleichnis: Wenn wir den Sohn umbringen, können wir selber das Erbe antreten.

Eine abschließende Frage fordert die Hörer der Gleichnis-Erzählung zur Stellungnahme heraus: Was wird der Herr des Weinbergs wohl mit den Pächtern tun? Die Antwort der religiösen Führer des Volkes Israel gibt das allgemeine Empfinden wieder.

Jesus zitierte ein Wort aus dem Psalm 118: "Der Stein, den die Bauleute verwarfen, er ist zum Eckstein geworden." (Psalm 118, 22) Der Eckstein eines Gebäudes ist einerseits der Grundstein, der alles trägt, und andererseits der Schlussstein, der alles zusammenhält. Mit dem Stein, den die Bauleute verwarfen, meinte Jesus sich selber. Er ist Gott, der die grenzenlose Liebe ist. Die ewige Liebe Gottes trägt alles und hält alles zusammen. Wer auf den Eckstein, auf Jesus Christus, den Gott der ewigen Liebe, sein Leben baut, steht auf einem unzerstörbaren Fundament.

"das die erwarteten Früchte bringt": Wortgetreue Übersetzung: das die Früchte tut.